In Louis Buñuels Film „Das Gespenst der Freiheit“ (Le Fantôme de la liberté) von 1974 zeigt die letzte Szene den Einsatzleiter der Polizei bei einer Demonstration, wie er gerade den Schießbefehl gibt. Gleich danach ertönen erste Schüsse. Die Demonstranten rufen unterdessen „Nieder mit der Freiheit, nieder mit der Freiheit!“.
Eine Variante dieses surrealistischen Spektakels spielte sich vorige Woche in Nepals Hauptstadt Kathmandu ab. Die auch nach der Abdankung des letzten Königs Gyanendra Singh 2008 nie ganz verschwundenen Monarchisten gingen zu Tausenden auf die Straße und forderten nichts weniger als die Abschaffung der Demokratie. Anders als in Buñuels Filmklassiker wurde zum Glück niemand erschossen. Die Demonstranten hatten ja nichts Anderes getan, als ihre Rechte als demokratische Bürger in Anspruch zu nehmen. Doch waren tausende von Polizisten im Einsatz, die Tränengas und Schlagstöcke einsetzten, um den Marsch vor dem Stadtzentrum zu stoppen. Was ihnen auch gelang.
Endgültig ins Trudeln war die 1768 gegründete Gorkha-Dynastie durch einen blutiges Gemetzel im innersten Kreis der Königsfamilie gekommen. Im Sommer 2001 hatte Kronprinz Dipendra mit einer automatischen Pistole im Speisesaal der königlichen Familie den damaligen König Birendra Shah und alle anderen Anwesenden seiner Familie niedergeschossen und sich anschließend selbst gerichtet. Die Gründe für diesen unglaublichen Wahnsinnsakt werden sich wohl niemal ganz aufklären lassen. Hartnäckig halten sich Verschwörungstheorien, die die indischen und/oder amerikanischen Geheimdienste als Strippenzieher sehen.
Gyanendra Shah (geb. 1947) wurde nach diesem Gemetzel zum König ausgerufen, doch er hatte nicht das Format, sich dem Verfall der königlichen Autorität entgegenzusetzen. Ein Neuaufbruch in Richtung Demokratie war nicht ohne eine Abdankung des Königs denkbar – das gelang, doch schon bald kehrte auch die Ernüchterung ein. Die gegenwärtig erstarkende Forderung nach der Rückkehr des Königtums hat denn wohl auch weniger mit Sympathie mit der Person Gyanendra als mit der ständig zunehmenden politischen Frustration im Volk zu tun.
Seit 2008 hat Nepal 13 Regierungen erlebt. Es scheint, dass Regierung und Parlament die Kraft zur Gestaltung der Politik verloren haben. Statt echte Reformen auf den Weg zu bringen, werden ständig neue politische Bündnisse geschmiedet, mit denen sich die Regierung notdürftig an der Macht hält. Die Korruption hat, wie es scheint, den größten Teil des politischen Lebens fest im Griff, auch die Maoisten. Diese hatten 1996-2006 einen bewaffneten Aufstand gegen die feudalistische Herrschaft geführt, der mit einem umfassenden Abkommen beendet wurde, das unter anderem die Abschaffung der Monarchie und des Panchayat-Systems vorsah, das in den 1950er Jahren praktisch den Monarchen zum absoluten Herrscher gemacht hatte. Den Nimbus der Unkorrumpierbarkeit verspielten die demokratisch gewordenen Kommunisten allerdings innerhalb kurzer Zeit.
In vielem ist Nepal schon lange ein gescheiterter Staat. Ohne die Überweisungen der zahlreichen nepalesischen Arbeiter in den Golfstaaten, in Europa und überall in der Welt wäre die Wirtschaft nicht lebensfähig. Neuerdings wurde bekannt, dass Russland angeheuerte nepalesische Hilfssoldaten im Krieg in der Ukraine einsetzt. Der Protest der nepalesischen Regierung gegen diese auch nach nepalischem Recht illegale Rekrutierung bleibt aber schwach, vermutlich nicht zuletzt auch mit Rücksicht auf Peking.
Slogans wie „König, kehr zurück, rette das Land!“ und „Nieder mit der Demokratie!“ fallen in diesem Umfeld durchaus auf fruchtbaren Boden. Seit 1951 hatte der König eine einzigartige Machtstellung. Es gab sogar eine Art Theologie des Gottkönigtums, die ihn zu einer Erscheinungsform Vishnus erklärte. 1960 wurden Parteien verboten und das sogenannte Panchayat-System eingeführt, eine Art Rätesystem. Dagegen richtete sich immer wieder der Widerstand der Straße. Als Birendra 1972 an die Macht kam, kündigte er Reformen an, doch bei einer Volksabstimmung 1979 mit dem Panchayat-System auf der einen und einer von Parteien gesteuerten Demokratie auf der anderen Seite gewannen zwar knapp die Befürworter des status quo. Doch das Land kam nicht zur Ruhe – stattdessen ging der Widerstand mehr und mehr in den Untergrund.
Doch 2008 wurde die Monarchie in Nepal abgeschafft, der letzte König Gyanendra Shah wurde zur Abdankung gezwungen und weitgehend enteignet. Der Beschluss wurde von einer überwältigenden Mehrheit der Parlamentarier mitgetragen und als Sieg des Volkes gefeiert. Der Königspalast Narayanhiti ist heute ein Museum. Gyanendra Shah und seine Familie wurden zu normalen Bürgern degradiert, blieben aber im Lande – immer noch hoch angesehen in Teilen der Bevölkerung. Damit ging aber auch ein überlieferter Fluch in Erfüllung, die verkündet hatte, dass die Gorkha-Dynastie mit dem zehnten Herrscher zuende gehen werde.
Doch es scheint, die Monarchisten sind inzwischen wieder im Aufwind. Hinter den Demonstrationen für die Wiederkehr des Königtums steht die “Nationale Partei für Demokratie” (Rastriya Prajatantra Party, RPP). Anders als ihr Name sagt fordert sie die Rückkehr zur Monarchie – und nicht nur dass: Nepal soll auch explizit wieder zum Hindu-Königreich werden. Die RPP versucht damit, auf einer Welle zu reiten, die auch beim großen Nachbar Indien erfolgreich ist – nämlich der Rekurs auf Identitätspolitik, nachdem die sozialistischen und säkularistischen Ambitionen des Landes scheinbar ins Leere gelaufen sind. Wie in Indien gelten in Nepal rund 80 Prozent der Bevölkerung als Hindus.
Kein Wunder, dass die kritische Presse in Nepal vermutet, dass Indien über diese Schiene seinen Einfluss in Nepal zu stärken versucht. In den letzten Jahrzehnten hat Indien dramatisch an Einfluss in Nepal verloren. Stattdessen drang China auf vielen Bereichen immer weiter vor, vor allem als Kreditgeber. Die RPP leugnet selbstverständlich jeden Handel mit Geldgebern aus regierungsnahen Kreisen in Indien. Der ehemalige König Gyanendra Shah ließ sich allerdings im Mai 2023 gerne mit seiner Familie in die Hauptstadt des indischen Teilstaat Uttar Pradesh einladen. Gastgeber war Landesminister (Chief Minister) Yogi Adityanath, eine prominente Gestalt der Bharatiya Janata Party (BJP) von Premierminister Narendra Modi. Adityanath, der stets in seinem Gewand als Hindu-Mönch auftritt, ließ den Empfang für den ehemaligen König praktisch in der Art eines Staatsbesuchs inszenieren.
Dies geschah sicherlich nicht ohne Absprache mit der Unionsregierung in Delhi, die die Entwicklung in Nepal aufmerksam beobachtet. Zwar fordert in Indien niemand die Einführung der Monarchie, doch die Stärkung von potentiellen Bündnispartnern ist im nationalen Interesse und aus Sicht der Regierungsparteien sozusagen ideologiekonform, wenn es sich um pro-hinduistische Kreise in Nepal handelt. Monarchie ist zwar aus Sicht der immer noch demokratischen indischen Union etwas exotisch – die Herrschaft Ramas hin oder her -, doch mit dem Königtum in Bhutan hat Indien seit eh und je gut funktionierende Beziehungen, sogar bei der Verteidigung der Nordgrenze. Zugleich konnte sich der als besonders radikal geltende Yogi Adityanath hier als Staatspolitiker profilieren. Er gilt als einer der potentiellen Nachfolger von Narendra Modi auf dem Posten des Premierministers. Die größte Sorge der indischen Regierung dürfte aber sein, den zunehmenden Einfluss Chinas in Nepal zurückzubinden. Die demokratisch gewählte indische Regierung dafür den Schulterschluss mit Antidemokraten in Kauf – Surrealismus pur.
Heinz Werner Wessler