Heinz Werner Wessler
Mauritius ist die größte in einer Kette von Inselchen vulkanischen Ursprungs mitten in der Weite des indischen Ozeans. In unseren Breiten Inbegriff des tropischen Urlaubsparadieses. Im Januar 2023 ist es das Hindi, das mich auf die Insel bringt – nach einer elend langen Flugreise, die an meinem ökologischen Gewissen nagt. Jedes Jahr am 10. Januar wird der Welt-Hindi-Tag begangen. Bei der Gelegenheit lädt das Welt-Hindi-Sekretariat in Phoenix (Mauritius) einen ausländischen Gast zum Festvortrag ein. Dass ich mich seit vielen Jahren unter anderem mit Hindi-Literatur beschäftige, hängt mit meinem Beruf als Indologe an der Uni Uppsala zusammen.
Nach der Abschaffung der Sklaverei wurden im 19. und frühen 20. Jahrhunderts in verschiedenen Winkeln des britischen Kolonialreichs massenhaft Kontraktarbeiter in Indien angeworben. Als Folge dieser Einwanderung sind heute rund 70 Prozent der 1,3 Millionen Mauritianer indischer Herkunft.
Früher sprach man zuhause Bhojpuri als Dialekt und Hoch-Hindi als Sprache eines improvisierten Ausbildungssystems genannt Baiṭḥkā („Sitzkreis“), der noch heute als eine Art Samstagsschule eine feste Institution insbesondere der hinduistischen Bevölkerung ist. Hier geht es nicht nur um Sprache, sondern auch um Vermittlung von Kultur und Religion. Doch die meisten Kinder sprechen inzwischen untereinander Kreol statt Bhojpuri. Die Lehrer berichten auch, dass es immer schwieriger wird, Eltern und Lehrer für diese traditionelle Institution zu gewinnen.
Die pro-Hindi-Bewegung in Mauritius erhielt viel Unterstützung von der Politik in Delhi, wo Mauritius als „Klein-Indien“ angesehen und als natürlicher Bündnispartner im Kampf für eine stärkere Position des Hindi auf internationaler Ebene angesehen wurde und wird. Seit ca. 1994 werden im Inselstaat mindestens sechs Jahre Hindi auf Grundschulniveau angeboten. Der Aufbau dieses Systems wurde wie in Indien als Teil der postkolonialen Identitätsbildung verstanden. Auch die christlich gewordene indischstämmige Bevölkerung nahm anfangs daran lebhaften Anteil und schickte ihre Kinder in den Hindi-Unterricht.
Doch dieser Enthusiasmus hat in den letzten drei Jahrzehnten deutlich nachgelassen. Die antikolonialistisch eingestellten Aktivisten und Lehrer des Hindi fühlen von der Jugend unverstanden, die sich mehr und mehr dem Kreol als Alltagssprache zuwendet und ganz andere Probleme hat. Die Großfamilie als Refugium für Bhojpuri und Hindi hat mehr oder weniger ausgedient. Mit dem dramatischen Hinweis auf den Verlust kann man das Herz der Jungen nicht mehr erreichen. Heiraten jenseits der eigenen Gemeinschaft, die früher zu sozialer Ausgrenzung führten, sind heute normal. Das eigene Dorf als Bezugsrahmen hat ausgedient. Man studiert gerne im Ausland und versteht sich als Teil einer globalisierten Jugendkultur. Die Alten beschwören Hindi als Refugium von Identität, die jüngeren Aktivisten verweisen auf Hindi als Weltsprache – die Jüngeren interessiert das wenig.