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Modi siegt – und wird zugleich in seine Schranken gewiesen : Zum Ausgang der Wahlen zur Lok Sabha in Indien

Seit heute 4. Juni werden in Indien die Stimmen bei der größten Wahl aller Zeiten ausgezählt, die Wahl zur Lok Sabha, zum Parlament des Unionsstaats. Diese Wahl war ein logistisches Meisterwerk in sieben Durchgängen in unterschiedlichen Teilen des riesigen Landes vom Himalaya bis Kap Comorin im Süden.

Schon jetzt (4.6. 15:00 CEST) ist die Tendenz klar absehbar: Premierminister Narendra Modi und seine Partei, die Bharatiy Janata Party (BJP) haben zum dritten Mal hintereinander auf nationaler Ebene gewonnen. Dies war eigentlich von Anfang an klar, die Frage war nur, wie viele Kandidaten die BJP und ihre Verbündeten Parteien ins Parlament hieven könnten. Die ehrgeizige selbstgesetzte Zielvorgabe war die 2/3 Mehrheit. Diese Zielvorgabe wird nicht erreicht. Zum jetzigen Zeitpunkt sieht es danach aus, dass es 291 Sitze für die Regierungskoalition NDA werden. Im jetzigen, 2019 gewählten Parlament hält die Regierungskoalition 352 Sitze.

Dabei schien die 2/3 Mehrheit durchaus in Reichweite. Die einzige nationsweite Oppositionspartei, die altehrwürdige Kongresspartei, gab sich zwar kämpferisch und ihr Führer Rahul Gandhi hat zweifellos in den letzten Jahren an Format gewonnen, doch Modi hat sich zum schwer angreifbaren Landesvater gemausert. Für viele ist er mehr denn je der Inbegriff der aufstrebenden Supermacht. Indien – vergleichbar am ehesten mit der von ihm so sehr gehassten Indira Gandhi, die um 1970 zur allüberragenden Gestalt der indischen Politik aufgestiegen war (“India is Indira”). Das indische Mehrheitswahlrecht war lange für die Kongresspartei vorteilhaft – heute ist es das für die BJP. Die größte Partei wird belohnt, während die Kleineren doppelt bestraft werden.

Modis landesväterliches Image bröckelt auch nach zehn Jahren als Premierminister der größten Demokratie der Welt nicht wirklich. Im Gegenteil: Unentwegt eröffnet er Autobahnen, Eisenbahn- und Metrolinien, Fabriken und Universitäten. Er segelt selbstbewusst auf der Welle der guten Nachrichten: Die Wirtschaft wächst, Bildung nimmt zu, Indien rüstet gewaltig auf, schickt Satelliten zum Mars und zur Sonne, einen Lander auf den Mond und ist auf dem Sprungbrett zur bemannten Raumfahrt. Auf internationalem Parkett spielt Indien und der Regierung Modi die Angst vor der chinesischen Machtpolitik in die Hände. Dafür lassen die westlichen Staaten dem Land sogar durchgehen, dass es seine Ölimporte aus Russland nach Beginn des Ukraine-Krieges massiv gesteigert hat.

Im Allgemeinen gibt sich Narendra Modi als gütiger und toleranter Landesvater, doch die Register der Scharfmacher sind ihm keineswegs fremd. So ließ er sich in einer Wahlkampfrede in Rajasthan dazu hinreißen, Muslime pauschal als „Eindringlinge“ (Hindi: Ghuspaithiye) zu bezeichnen. Dies ist die Sichtweise der pro-hinduistischen Identitätspolitik: Die 14 Prozent Muslime im Land sind demnach ein Resultat einer jahrhundertelangen Kolonisierung durch muslimische Herrschaft, ganz ähnlich wie die 2,3 Prozent Christen im Land ein Überbleibsel von 200 Jahren britischer Kolonisierung darstellten.

In den letzten Jahren hat es nicht an Versuchen gefehlt, mithilfe der Finanzämter, der Wahlkommission, Geschäftsordnungsanträgen im Parlament etc. die Opposition und vor allem deren Führer Rahul Gandhi zum Schweigen zu bringen. Hinzu kommt, dass der weitaus größte Teil der Medien in den Händen von Sympathisanten der BJP ist – weswegen Indien in Sachen Pressefreiheit in den letzten Jahren in internationalen Analysen deutlich nach unten gerutscht ist. Außerdem ist da der hindu-nationalistische RSS, inzwischen der weitaus größte Freiwilligenverband der Welt – und der setzt selbstverständlich seine Kräfte selbstlos für Modi und die BJP ein.

Möglicherweise ging diese Machtkonzentration vielen Wählern langsam zu weit. Solche Gefühle dürften zum relativen Wahlerfolg der Kongresspartei und ihrer Verbündeten in einem sehr heterogenen Bündnis namens “INDIA” beigetragen haben. Nach zwei schmählichen Niederlagen 2014 und 2019 wird INDIA nun mit vermutlich rund 245 Abgeordneten wieder nominal zu einer mächtigen Opposition im Parlament. Die herrschende Überlegenheitsrhetorik der Regierung im Parlament ist nun doch merklich angeknackst. Endlich ist nun auch wieder mit heißen parlamentarischen Debatten zu rechnen.

Das Volk hat Modi und die in seinem Bann stehende BJP wiedergewählt, aber zugleich auch in die Schranken gewiesen. Erstaunlich ist vor allem das unerwartet magare Resultat im nördlichen Bundesstaat Uttar Pradesh, das als ein Herzland der BJP gilt und dessen Chefminister Adityanath als einer der potentiellen Erben Modis gilt – jedenfalls bis jetzt. Diese Wahl ist auf jeden Fall ein Sieg des Souveräns – nämlich der Wählerinnen und Wähler. Indien ist und bleibt ein Leuchtturm der Demokratie in Asien. Eine gute Nachricht in einer Welt, die in den letzten Jahren immer autokratischer geworden ist.

Heinz Werner Wessler

 

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