Es geschah in der chaotischen und gesetzlosen Zeit nach dem Bürgerkrieg: Im März 2007 kam es in der Kleinstadt Gaur zur Konfrontation zweier bewaffneter, irregulärer Gruppen mit 27 Toten. Gaur liegt direkt an der Grenze mit Indien im Distrikt Rautahat im südöstlichen Tarai (Tiefebene). Nur eine Seite kam zu Schaden, deshalb spricht man vom Massaker von Gaur. Offiziell herrschte damals seit fast einem Jahr Waffenruhe, und nur vier Monate vorher war der Friedensvertrag zwischen Staat und Maoist(inn)en unterzeichnet worden. In Gaur waren keine staatlichen Kräfte involviert, die Maoist(inn)en gerieten mit dem MPRF (Madheshi Jana Adhikar Forum, Madheshis People’s Right Forum) aneinander. Beim MPRF handelt es sich um eine politische Gruppe, die die Rechte der Bewohner/-innen der Ebene, den Madheshi, vertrat. Bei Gefechten waren sie zusammen mit der Armee und gegen die Maost(inn)en oft siegreich gewesen, in Gaur aber zogen sie den Kürzeren. Die Todesopfer stammten alle aus Reihen der MPRF. Bis heute wurden die Umstände der Gräueltat nicht völlig geklärt. Die mutmaßlichen Täter sind allseits bekannt, mussten aber nie befürchten, vor Gericht zu landen. Dabei wird es wohl bleiben.
Im April 2006 fegte ein Jan Andolan, ein Volksaufstand, die Monarchie hinweg und beendete den Bürgerkrieg. Nach zehn Jahren schwiegen die Waffen oder hätten es sollen. Die regulären Sicherheitskräfte des Staates blieben danach selbst bei Verletzung der Waffenstillstands durch bewaffnete Gruppen konsequent in ihren Kasernen. Sie reagierten nur in Notwehr, bei direkten Attacken, die es auf die Nepal Police, aber sonst sehr selten gab. Die Maoist(inn)en, die sich als Sieger fühlten (konkreter: sie waren nicht unterlegen), hielten sich hingegen selten an die Spielregeln. Die carte blanche nutzen sie rücksichtslos und oft unter Einsatz von Gewalt aus. Ziel war eine optimale Ausgangsposition für die ersten freien Wahlen im April 2008. Doch nicht nur sie glaubten, exklusiv für das Volk sprechen. Außer kriminellen Banden, die sich als politische Parteien tarnten, entstanden nach dem Friedenspakt jede Menge neuer politischer Akteure, manche erlangten nationale Bedeutung.
Ab Sommer 2006 kamen sich diese Gruppen untereinander und auch mit den Maoist(inn)en in die Quere. Täglich gab es Schlägereien mit Toten und Verletzten. Der Machtanspruch der Maoist(inn)en stieß allerorts auf Widerstand. Den größten gab es fast flächendeckend im südlichen Flachland, im Madhesh (oder Tarai). Dort sah man am Ende des Bürgerkriegs endlich die Zeit gekommen, massiv – und zur Not gewalttätig – die Interessen der bislang ausgegrenzten Bewohner/-innen, der Madheshi, zu verteidigen. Für viele Madheshi waren die Maoist(inn)en alter Wein in neuen Schläuchen, die Inkarnation der alten Hill Elite, die den fruchtbaren Tarai weiter dominieren wollte und die Tarai-Bewohner/-innen verachtete. Maoist(inn)en und Madheshi waren sich bald spinnefeind. Die Polizei hielt sich peinlich genau an den Waffenstillstand. Auf dem Gelände der Reismühle von Gaur kam es zum blutigen Showdown.
Eine Anzeige gegen Upendra Yadav, den damaligen Chef des MRPF (Maoist People’s Resistance Force), und andere Vertreter war schon im April 2007 erstattet worden, jedoch ohne polizeiliche Ermittlungen nach sich zu ziehen. Die NGO Human Rights Watch legte zum gleichen Zeitpunkt einen Bericht vor, der dringend empfahl, die Vorgänge zu untersuchen. Es bestehe der Verdacht, dass es sich um kein Gefecht, sondern um einen geplanten, vorsätzlichen Überfall auf einen zumindest teilweise wehrlosen Gegner handeln könnte. Jahrzehnte geschah nichts. Erst im Januar 2023 empfahl die National Human Rights Commission, Upendra Yadav und andere MPRF Mitglieder aufgrund der Vorkommnisse in Gaur vor Gericht zu stellen. Im August 2025 verpflichtete der Supreme Court die zuständigen Polizeibehörden, den im April 2007 erstatteten Anzeigen Folge zu leisten, die Umstände restlos aufzuklären und der Staatsanwaltschaft den Fall vorzulegen, falls sich der Verdacht eines Verbrechens erhärten sollte. Ob die Polizei von Rautahat dieser höchstrichterlichen Aufforderung folgt, wird die Zukunft weisen.
Der Fall zeigt exemplarisch die Probleme der Übergangsjustiz (Transitional Justice), nicht nur in Nepal. Yadav bleibt eine Größe im Tarai und mischt auf nationaler Ebene mit, war Vizepremier und mehrfach Minister (für Äußeres!). Er ist sowenig Verlierer des Bürgerkriegs wie Armee, Polizei, Maoist(inn)en und andere Parteien, die allesamt Enthüllungen fürchten müssen. Nur eine Partei zur Rechenschaft zu ziehen ist gerade im politisch permanent aufgeladenen Tarai kaum realisierbar.
M.S.
https://kathmandupost.com/national/2025/12/11/top-court-directs-nepal-police-to-investigate-gaur-massacre-without-further-delay





