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Brennende Lunte oder bloß routinemäßiges Säbelrasseln zwischen Indien und Pakistan?

Der Terror ist wieder da in Kaschmir. Am 22. April 2025 wurden 26 Menschen bei einem Überfall auf Touristen nahe Pahalgam kaltblütig hingerichtet. Videoclips zeigen die extreme Brutalität dieser Morde. Die Täter gingen gezielt gegen Männer und Hindus vor, Frauen und Kinder mussten dabei zusehen. Eine Frau, die nach dem Mord an ihrem Mann die Täter aufforderte, sie ebenfalls zu erschießen, wurde darauf hingewiesen, sie solle sich an Modi wenden – an den indischen Premierminister.
Der nach Jahrzehnten der Krise gerade erst wieder einsetzende Tourismusboom dürfte damit fürs Erste wieder beendet sein. Doch das ist nicht das Schlimmste. Das Ereignis löste eine neue Krise zwischen Pakistan und Indien aus, deren Wellen weit über das Tal hinausreichen. Die Nachbarstaaten stehen wieder einmal am Rand einer militärischen Konfrontation.
Nur wenige Stunden nach dem Anschlag machte Indiens Premierminister Narendra Modi – wenn auch ohne Beweise vorzulegen – Pakistan verantwortlich und kündigte an, die Täter „bis ans Ende der Erde“ zu verfolgen, wie man in dieser Lage zu sagen pflegt. Pakistan wies die Verantwortung wie immer in solchen Fällen routiniert zurück. Als Nächstes wies Indien pakistanische Staatsbürger aus und kündigte das internationale Indus-Wasserabkommen, das seit den 1960er Jahren den Zugang Pakistans zum lebenswichtigen Wasser aus dem indischen Punjab regelt. Damit hatten indische Regierungen auch früher immer wieder gedroht. Pakistan seinerseits hat immer wieder betont, dass es den Stopp der Wasserversorgung aus dem Nachbarland als Kriegsgrund ansieht und setzt seinerseits Sanktionen in Kraft, unter anderem ein Überflugverbot für indische zivile Flugzeuge. Seither wächst die Sorge, dass der jahrzehntelange Kaschmirkonflikt erneut in einen offenen militärischen Schlagabtausch zwischen den beiden Atommächten münden könnte.
Dass es Anschläge in Indien gibt, für die Pakistan mitverantwortlich gemacht wird, ist nichts Neues. Zuletzt verübte am 14. Februar 2019 ein Selbstmordattentäter der pakistanisch-basierten Extremistengruppe Jaish-e-Mohammed (JeM) einen Anschlag auf einen indischen Militärkonvoi in Pulwama (Süd-Kaschmir). Dabei starben 40 indische Paramilitärs – der schlimmste Anschlag auf indische Sicherheitskräfte in Kaschmir seit Jahrzehnten. In der Nacht zum 26. Februar 2019 führte daraufhin Indien Luftangriffe auf ein mutmaßliches JeM-Ausbildungslager in Balakot durch – auf pakistanischem Staatsgebiet (nicht nur in dem zu Pakistan gehörigen Teil Kashmirs, sondern im Kernland Khyber Pakhtunkhwa). Es war das erste Mal seit dem Indo-Pakistanischen Krieg 1971, dass Indien pakistanisches Territorium direkt angriff.
Am 27. Februar 2019 griff Pakistan als Vergeltung Ziele in indisch-kontrolliertem Kaschmir an. In diesem Zuge kam es zu einem spektakulären Luftkampf, bei dem pakistanische Jets ein indisches Kampfflugzeug (MiG-21) abschossen, das über pakistanischem Territorium abstürzte. Der Pilot, Wing Commander Abhinandan Varthaman, wurde gefangen genommen und später von Pakistan als „Geste des Friedens“ wieder freigelassen. Diese Eskalation führte zu einer massiven Mobilisierung auf beiden Seiten, darunter Verlegung von Truppen und Waffen entlang der Grenze. Einige Tage schienen die Nachbarländer kurz vor einem Krieg zu stehen. Die internationale Gemeinschaft – insbesondere die USA, China und Saudi-Arabien – intervenierte diplomatisch, um eine weitere Eskalation zu verhindern, zum Glück mit Erfolg.
Die derzeitige Tonlage in Pakistan und Indien erinnert an die Lage im Februar 2019. Der Ton in Delhi ist konfrontativ, die nationalistische Rhetorik aufgeheizt. Premierminister Modi will Stärke demonstrieren. Die BJP-nahe Presse diskutiert offen einen „präventiven Gegenschlag“ gegen „Terrorcamps“ auf pakistanischem Territorium.
Die pakistanische Führung wies unterdessen alle Vorwürfe zurück und sprach von einem Versuch, innenpolitische Schwächen durch außenpolitische Aggression zu kaschieren. Die Streitkräfte beider Länder wurden inzwischen in erhöhte Alarmbereitschaft versetzt. Nachrichtendienst berichten von Truppenbewegungen entlang der Line of Control (LoC) in Kaschmir, auf die sich beide Seiten unter internationaler Vermittlung nach dem Kaschmir-Krieg Ende der 1940er Jahre geeinigt hatten – die aber keine der beiden Seiten als Staatsgrenze anerkennt.
Wie immer rufen internationale Beobachter – darunter das US-Außenministerium und die EU – zur Deeskalation auf. Hinter den Kulissen läuft die internationale Krisendiplomatie heiß. Die Region ist und bleibt ein Pulverfass, insbesondere da beide Staaten Atomwaffen besitzen und keine belastbare Krisenkommunikation etabliert ist. Stattdessen schwadronieren die Medien und sogar Politiker in Ministerämtern, dass man es dem Feind noch zeigen wird und entblöden sich nicht, die nukleare Keule zu schwenken. Selbst für Verantwortungsträger scheint die Hemmschwelle dabei erschreckend tief zu liegen.
Der Anschlag hat auch im Innern Indiens ein Dilemma offengelegt: Trotz massiver Militärpräsenz, allgegenwärtiger Überwachung und repressiver Gesetzgebung ist es der Regierung nicht gelungen, das Kaschmir-Tal zu befrieden. Dabei handelt es sich um ein innenpolitisches Prestigeprojekt nicht nur der Regierung Modi, sondern des Hindu-Nationalismus überhaupt. Mit harten Bandagen und mit mehr Zuckerbrot als Peitsche sei das Problem mit der Unruhe in Kaschmir lösbar, so der Ansatz.
Die Aufhebung des Autonomiestatus von Jammu und Kaschmir im Jahr 2019 durch die Streichung von Artikel 370 der Verfassung sollte eine der Maßnahmen sein, die den Frieden herbeiführen. Die Regionalwahlen vom Oktober 2024 und die Wiederkehr der Touristen schienen eine Rückkehr zu einer Art Normalität zu signalisieren.
Doch vor allem junge Kaschmiri fühlen sich als Fremdlinge im eigenen Land. Viele sind wirtschaftlich abgehängt, politisch entrechtet und gesellschaftlich stigmatisiert. Hinzu kommt die Sorge, dass gezielt Hindus im Tal angesiedelt werden, um auf die Dauer die Muslime zur Minderheit zu machen. Die massive Präsenz der Armee – über 600.000 Soldaten sind dauerhaft im Einsatz – wird von vielen als Dauerbesatzung wahrgenommen. Hinzu kommen paramilitärische Einheiten.
Nach dem jüngsten Anschlag gehen die Sicherheitskräfte wieder einmal rabiat vor: Neun Wohnhäuser mutmaßlicher Unterstützer der Angreifer wurden ohne Gerichtsbeschluss gesprengt. Ihre ehemaligen Bewohner sollen Helfershelfer der Pakistanis sein, die den Anschlag durchgeführt haben, so das Narrativ. Auch Familien von früheren Kämpfern wurden kollektiv bestraft. Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International und Human Rights Watch kritisieren dieses Vorgehen als völkerrechtswidrig und kontraproduktiv – es treibe junge Menschen in die Radikalisierung.
Die Terrorgruppe The Resistance Front (TRF) bekannte sich zu dem Anschlag. Ihr Name ist ausdrücklich nicht islamistisch aufgeladen, doch es herrscht Einigkeit, dass es sich um einen Ableger der Lashkar-e Toiba (LeT) handelt, die in Pakistan nur schwach bekämpft wird. Sie ist auch im indischen Kaschmir aktiv und rekrutiert lokal. An Ressourcen scheint es ihr nicht zu fehlen. Peinlich für die indische Seite ist, dass die Täter bis heute noch nicht gefasst sind. Seit dem Anschlag sind sie angeblich mehrfach in der Bergwelt um Anantnag gestellt worden, konnten aber jedes Mal entkommen.
Die Behauptung, der Sicherheitsapparat und die Zentralregierung hätten den Frieden im Tal nach Jahrzehnten der Krise wiederhergestellt, hat sich als Illusion erwiesen – im Gegenteil, sie haben neue Gründe für Unzufriedenheit und Widerstand geschaffen. Die einseitige Schuldzuweisung an Pakistan mag im Wahlkampf wirken, doch sie verschärft die Spannungen in einer Region, die schon mehrfach an der Schwelle zum Krieg stand.
Wenn die indische Führung nicht bald auf Dialog statt auf Drohungen setzt, könnte der Kaschmirkonflikt aus dem Schatten der Innenpolitik in den grellen Fokus eines internationalen Krisenszenarios rücken – mit unkalkulierbaren Folgen. Einen Krieg kann eigentlich weder Pakistan noch Indien wollen – und er wird so oder so kaum dazu führen, dass Pakistan seine Ansprüche auf das indische Territorium von Kaschmir aufgibt. Der 5. Februar ist in Pakistan der „Kaschmir-Solidaritätstag“, an dem jedes Jahr nicht nur Solidarität mit der leidenden Bevölkerung demonstriert, sondern auch der Besitzanspruch mit markigen Politikerreden erneuert wird. Das Thema Kaschmir ist in Pakistan noch mehr als in Indien hervorragend dazu geeignet, die Bevölkerung zu einigen und von politischen Fehlleistungen im Inneren abzulenken.
Dabei ist allen Beteiligten klar: Keine Regierung in Indien wird jemals auf pakistanische Gebietsansprüche eingehen – im Gegenteil: De iure behält Indien seinen Anspruch auf das gesamte Gebiet des ehemaligen Fürstentums Jammu und Kaschmir aufrecht, was nicht nur die pakistanischen Gebiete, sondern auch die seit den 1960er Jahren chinesisch besetzten Gebiete einschließt. Doch Anspruchsdenken hilft nicht weiter. Die Verantwortlichen müssen sich zusammenraufen und vor allem einen Krieg verhindern, der in eine nukleare Katastrophe münden könnte.

Heinz Werner Wessler

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