Der Außenminister Afghanistans, Amir Khan Muttaqi, hält sich seit Donnerstag für mehrtägige Gespräche in New Delhi auf. Es ist der erste derartige Besuch einer Delegation der Taliban seit 2021. Indien unterhält zwar keine offiziellen Beziehungen zur de facto Regierung Afghanistans, bemüht sich aber um deren Normalisierung, da bis auf Weiteres mit der Taliban zu rechnen ist. Muttaqi traf bis jetzt unter anderem seinen Amtskollegen Jayshankar, der im Anschluss die Wiederöffnung der indischen Botschaft in Kabul ankündigte, die nach der Machtübernahme der Taliban geschlossen worden war. Indien gehört so zu einem größer werdenden Kreis Länder, zumeist Nachbarstaaten und arabische Nationen, welche diplomatische Beziehungen zu Kabul unterhalten, ohne damit die Taliban offiziell anzuerkennen. Dies tut nach wie vor nur Russland. Indien und Afghanistan stehen fast seit Menschengedenken in Beziehung und waren bis zur Teilung des Subkontinents 1947 direkte Nachbarn. Die Weiterführung und Vertiefung ist nur folgerichtig und im gegenseitigen Interesse, und zusätzlich einer der raren Belege, dass Religion auf dem Subkontinent nicht nur spaltet.
Diese Entwicklung wird besonders in Islamabad (und im Oberkommando der Streitkräfte in Rawalpindi) argwöhnisch verfolgt. Denn nichts verbindet Afghanistan und Indien so wie die Abneigung gegen Pakistan, und das seit Beginn von dessen Existenz, der Partition. Dieser Umstand wird zufälligerweise genau jetzt, bei der Anwesenheit Muttaqis in New Delhi, wieder einmal deutlich bestätigt. Die neueste heiße Phase der Streitereien an der Durand Line begann Anfang Oktober mit Angriffen der TTP (Tehrik-e Taliban Pakistan, der pakistanischen Taliban) auf pakistanische Sicherheitskräfte. Dabei wurden einige Dutzend Soldaten getötet, auch höhere Offiziere. Die Durant Linie bezeichnet die 1893 von den Briten gezogene Grenze zwischen Afghanistan und damals Britisch-Indien, die nun die afghanisch-pakistanische Trennlinie definiert (und von Afghanistan noch nie anerkannt wurde).
Seit Jahren bezichtigt Pakistan Kabul, der TTP sichere Rückzugszonen zu bieten und ist überzeugt, dass ohne diese die TTP kollabieren würde. Die Reaktion folgte einige Tage später, mit einem direkten Luftangriff auf Kabul. Offiziell übernahm Pakistan dafür bisher nicht die Verantwortung. Ziel war vermutlich der angebliche Anführer der TTP, Noor Wali Mehsud. Die Taliban wiederum reagierte darauf mit dem Beschuss mehrerer pakistanischer Grenzbunker. Aktuell kommt es seit dem 11.Oktober zu Kampfhandlungen entlang der ganzen Durand Line, die Kämpfe halten auch am 12.Oktober an. Da ein ungewisses Eskalationsrisiko besteht, appellieren Nachbarn und Verbündete an die beiden Parteien, die Kämpfe einzustellen.
Angesichts dieser Entwicklungen stellt sich besonders aus der Perspektive Pakistans die Frage, wie es so kommen konnte. Die Vermeidung einer afghanisch-indischen „Zange“ war praktisch von Anbeginn der wichtigste Aspekt der Militärdoktrin des Landes. Um möglichst viele Ressourcen gegen den Gegner im Osten mobilisieren zu können, ist ein freundlich gesinntes Regime in Kabul nötig. Zunächst (ab 1994) wurde die Taliban unterstützt, um den afghanischen Bürgerkrieg zu beenden (der auf Pakistan einen ruinösen Einfluss hatte). Ab 2004 war es das Ziel, das von den Amerikanern getragene und angeblich allzu Indien freundliche Karzai Regime zu stürzen und durch die wie auch immer eher manipulierbare Taliban zu ersetzen. Berühmt-berüchtigt wurde das Zitat des Chefs des Militärgeheimdienstes Faiz Hameed nach dem Machtgewinn der Taliban: „Don’t worry, everything will be ok.“
Für Pakistan hätte sich diese Prognose nicht falscher erweisen können. Nun hat man es in Kabul mit einem Regime zu tun, das die Aufstände der Paschtunen und Belutschen in Pakistan zwar nicht besonders aktiv unterstützt, deren Stammeskrieger aber auf dem eigenen Staatsgebiet praktisch uneingeschränkt gewähren lässt. Artilleriegefechte waren früher nur an der indischen Line of Control üblich, nun gehören sie eher an der Durand Line zum Alltag. Das hatte man unbedingt vermeiden wollen – einen heißen Konflikt auf beiden Seiten des Landes.
Wie stur die Taliban sein können, stellte Außenminister Muttaqi wieder einmal unter Beweis: Bei seiner Pressekonferenz waren keine Journalistinnen zugelassen. Und es wurde noch nicht öffentlich debattiert, wie eine militärische Kooperation zwischen Indien und Afghanistan aussehen könnte.
M.S.





