Skip to content Skip to footer

Der Übergang: wohin eigentlich?

Ein Rückblick aus zivilgesellschaftlicher Sicht

Kanak Mani Dixit

Immer wieder schreiben unsere Autor(inn)en in SÜDASIEN über den Übergangsprozess in Nepal – zumeist aus einer notwendigen kritischen Perspektive. Kanak Mani Dixit hat sich insgesamt der Frage zugewandt, wie sich der Prozess in Nepal in einer zivilisatorischen Bewertung beschreiben lässt. Sein originaler Text wird in gekürzter Form und mit Genehmigung der Nepali Times auf Deutsch in SÜDASIEN veröffentlicht. 

Außergerichtliche Tötungen als Modus Operandi

In einem Interview mit dem BBC Nepali Service am 8. September 2006 wird der damalige Führer der Maoisten, Pushpa Kamal Dahal, von einem Mann in Lamjung folgendes gefragt: „Man erwartet, dass man in einem Konflikt tötet und getötet wird, aber ich möchte wissen, warum ihr die Kehlen durchschneidet, wenn ihr Menschen das Leben nehmt.“ Dahal antwortet: „… Ich selbst habe sechs Monate nach Ausrufung des Volkskriegs ein wichtiges Rundschreiben an die Parteibasis verfasst. Darin hieß es, wenn eine Situation eintritt, in der es notwendig wäre, jemanden zu eliminieren [‘safaya’], solle nicht gefoltert werden …“.

Dieser Austausch belegt, dass Pushpa Kamal Dahal, der heutige Vorsitzende der Communist Party of Nepal (Maoist), während des zehnjährigen Bürgerkriegs Befehlsverantwortung für Handlungen seiner Kader hatte und sich außergerichtlicher Tötungen schuldig gemacht hat.  

Gesellschaften, die sich zu zivilisatorischen Werten bekennen, sprechen Bürgern das Recht ab, das Gesetz in die eigenen Hände zu nehmen und außergerichtliche Tötungen vorzunehmen. Außerdem hatte die nepalische Verfassung von 1990 zum Zeitpunkt, als Dahal wortreich seine Verantwortung für Tötungsbefehle an seine Parteikader einräumte, die Todesstrafe bereits abgeschafft. Weder Staat noch Justiz waren befugt, Hinrichtungen durchzuführen. Und hier hatte der maoistische Anführer unbekümmert zugegeben, dass außergerichtliche Tötungen sein Modus Operandi waren.

Mord mit Folter

Als Mittel zur Abschreckung und Kontrolle der Dörfer hatten die Maoisten während des Konfliktes sogenannte Eliminierungen (nepalisch safaya) angewendet. Damit gingen die Rebellen gegen Personen vor, die wagten, die maoistische Herrschaft herauszufordern – das konnten Familienälteste, Lehrer, Priester, Journalisten oder Funktionäre des Nepali Congress oder der CPN (UML), der konkurrierenden kommunistischen Partei, sein. 

Während Dahal als oberster Befehlshaber der Maoisten die Gesamtverantwortung für die Terrorakte der Rebellen trug, wurde die Entscheidung, wer zu eliminieren war, von der sogenannten „Volksregierung“ (nepalisch jana sarkar) unter Leitung von Baburam Bhattarai, dem Ideologen der Rebellengruppe, gefällt. 
„Formelle“ Entscheidungen über safaya wurden vom jana sarkar und/oder seinem jana adalat (Volksgericht) getroffen. Urteile wurden den terrorisierten Dorfbewohnern vorgelesen und an Wände geklebt. Den Tötungen gingen oft öffentliche Folterungen voraus, oder das Opfer wurde lebendig begraben, wie im Fall des Journalisten Dekendra Thapa aus Dailekh. Dahals persönliche Einstellung zu Morden sollte von den Bürger(inne)n des Landes und der nepalischen Geschichtsschreibung nie vergessen werden. Heute – 2022 – ist das Interview des BBC Nepali Service aus dem Jahr 2006 sogar noch aktueller, weil ein Gesetzentwurf zur Änderung des Gesetzes über die Übergangsjustiz (transitional justice, TJ) dem Parlament vorgelegt wurde. Dieser folgt der gleichen brutalen Philosophie, die versucht, zwischen einem Mord und einem Mord mit Folter zu unterscheiden.

Bereits vor 8 Jahren hatte der Oberste Gerichtshof angeordnet, dass dieses Transitional Justice Law (Enforced Disappearances Inquiry, Truth and Reconciliation Commission Act (TRC Act), Anmerkung d. Übers.) von 2014 novelliert werden muss, um es in Einklang mit humanitären Grundsätzen und der internationalen Praxis zu bringen. Doch der vom Minister für Justiz und Verfassungsangelegenheiten, Govinda Sharma Bandi, vorgelegte Gesetzentwurf enthält zahlreiche Aspekte, die ihn täterfreundlich machen und muss anhand einer umfangreichen Checkliste entweder nachgebessert oder zurückgezogen werden.

Zu den Fehlern des Gesetzentwurfs gehört unter anderem die Unterscheidung zwischen Tötung und Tötung durch extreme, unmenschliche Verfahren, die darauf abzielt, Täter zu entlasten. Vor dem Hintergrund des BBC Interviews ist es klar, dass diese Bestimmung von Pushpa Kamal Dahal und seiner Interpretation des Tötungsaktes inspiriert (oder eher gelenkt) wurde, wo er zwischen Töten nach Folter und der hohen moralischen Stellung derjenigen, die einfach nur töten, unterschied.

Zeitreise

Mittlerweile sind 16 Jahre vergangen, seit der Frieden in die zerrüttete nepalische Gesellschaft zurückgekehrt ist. Während des bewaffneten Konflikts waren allein im Jahr 2005 täglich sieben bis acht Menschen getötet worden. Die Bevölkerung war gefangen zwischen den Rebellen und den staatlichen Sicherheitskräften, die sich ebenfalls der Anwendung von Gräueltaten bedienten.

Unaufmerksame Beobachter, ob auf nationaler oder internationaler Ebene, begnügen sich damit zu glauben, dass die Maoisten eine visionäre Kraft waren, entschlossen, es mit einem autokratischen, monarchistischen Regime aufzunehmen. Tatsächlich hatten sie gegen die noch junge parlamentarische Demokratie unter der Verfassung von 1990 rebelliert. Die ersten Schüsse des „Volkskriegs“ fielen im Februar 1996 von einer maoistischen Gruppe, die nach den Parlamentswahlen von 1990 zu einer Randpartei geworden war.

Die aktuelle Verfassung von 2015, der Übergang zur Republik, die Einführung des Föderalismus und des Säkularismus werden als Erfolge der Maoisten angesehen; dieses Lob ist nicht wirklich angebracht. Hätte man die parlamentarische Demokratie in den 1990er Jahren geschützt, wäre das Land auf dem Weg zu sozialer Gerechtigkeit, Menschenrechten, Wirtschaftswachstum und Gleichberechtigung viel weiter als jetzt. Statt bloßer Worte in der neuen Verfassung, die darauf warten, in die Praxis umgesetzt zu werden, wäre die nepalische Gesellschaft schon heute viel mehr als eine Spielwiese für Dahal und seine Klientel.

Das Duo Dahal-Bhattarai wusste, dass in einem Land mit wenigen Straßen und verstreuten Siedlungen, in dem die Präsenz der Regierung schwach ist, gezielte öffentliche Morde ausreichen würden, um die Bevölkerung einzuschüchtern. Sie nahmen die Abkürzung zur Macht, indem sie leichtgläubigen Jugendlichen, die verzweifelt nach Veränderung strebten, die maoistische Ideologie unterjubelten. Sie schickten Kindersoldaten in den Kampf. Sie ermöglichten es Opportunisten und Trittbrettfahrern, Unschuldige auszunutzen und die Gesellschaft zu erpressen, um anschließend mit Friedensversprechungen in der offiziellen Politik Fuß zu fassen. Die Maoisten machten sich die Tatsache zunutze, dass der damalige König Birendra es der gewählten Regierung sechs Jahre lang nicht erlaubte, die nepalische Armee einzusetzen und diese Aufgabe einer unfähigen Zivilpolizei überließ. Dahal-Bhattarai beschlossen, ihren „Krieg“ zu beenden, als 2006 klar wurde, dass sie von den staatlichen Sicherheitskräften ausgelöscht werden würden. Als sie mit dem 12-Punkte-Abkommen und dem Umfassenden Friedensabkommen die Oberhand gewannen, spielten sie die nationalen Akteure und die internationale Gemeinschaft zu ihrem Vorteil gegeneinander aus. Gräueltaten des Konflikts wurden in einen dysfunktionalen Prozess der Übergangsjustiz verbannt, den Dahal bis heute sabotiert, während die Maoisten es sich in der Mainstream-Politik bequem gemacht haben.

Pushpa Kamal Dahal braucht einen glaubwürdig wirkenden Prozess der Übergangsjustiz, um längerfristige Ziele zu erreichen. Seine Taktik hatte sich bisher darauf konzentriert, den Transitional Justice Prozess zu verschleppen. Nun hat er die Taktik geändert und mit Hilfe von Minister Bandi beschlossen, die Mehrheit im Parlament, basierend auf der Koalition mit dem Nepali Congress von Premierminister Deuba, zu nutzen, um das kompromittierte Gesetz zur Änderung der Übergangsjustiz durchzudrücken.

Die Verabschiedung eines unveränderten TJ-Gesetzes würde es beiden, den staatlichen und den aufständischen Tätern der Konfliktära – den Vergewaltigern, Mördern, Entführern und Folterknechten – erlauben, ungeschoren davon zukommen. Es würde Dahal den Anschein von Legitimität verleihen, ohne dass er Reue zeigen oder Rechenschaft ablegen müsste. Dahal glaubt, dass das Fehlen eines institutionellen Gedächtnisses in der internationalen Gemeinschaft es ihm leicht machen wird, internationale Legitimität zu beanspruchen und so seine politische Glaubwürdigkeit innerhalb des Landes zu erhöhen.

Die Rücksichtslosigkeit Pushpa Kamal Dahals fand ihre Entsprechung bei seinem maoistischen Mitanführer Baburam Bhattarai, wie dessen Reaktion auf die Ermordung des Lehrers Muktinath Adhikari aus Lamjung zeigt. Bhattarai hatte eine Ausstellung mit dem Titel „Ein Volkskrieg“ besucht. Ein Fotograf fotografierte ihn beim Betrachten eines Bildes des ermordeten Lehrers, dessen Leiche an einen Uttis-Baum gefesselt worden war. In das Besucherbuch der Ausstellung schrieb Bhattarai am 25.2.2008 folgendes: „Der Charakter von Gewalt ist klassenbasiert und historisch, man kann Gewalt nicht ahistorisch und außerhalb von Klassendefinitionen verstehen. Es wäre nützlicher gewesen, wenn diese Fotos in einem klassenbezogenen und historischen Kontext präsentiert worden wären.“

Bis heute haben Dahal und Bhattarai ihre unmenschliche und kriminelle Sichtweise, welche Basis für ihren Volkskrieg war, nicht aufgegeben. Ja, sie haben den bewaffneten Konflikt aufgegeben, als die Niederlage auf dem Schlachtfeld unmittelbar bevorstand, aber der fehlgeleitete Prozess der Übergangsjustiz seit 2016 hat es ihnen ermöglicht, vollständig Teil der Mainstream-Politik zu werden, ohne dass sie bisher zur Rechenschaft gezogen wurden. Im Laufe von 16 Jahren hat sich die maoistische Führung in den Mainstream der nepalischen Politik eingereiht, das Spiel um Macht und Geld gemeistert und andere in diesem Spiel geschlagen. Dahals Opportunismus und das Fehlen von Prinzipien und Visionen haben dazu beigetragen, die Politik im Lande zu diskreditieren.

Der bemerkenswerteste Erfolg der maoistischen Politiker während des Friedensprozesses und der Erarbeitung der Verfassung bestand darin, dass sie Beziehungen zu den obersten Führern des NC und der UML aufbauten. Dies half ihnen bei ihrem Hauptziel, die Übergangsjustiz zu sabotieren und prinzipienlose Koalitionen mit allen und jedem einzugehen, um ihren Griff nach der Macht zu festigen. Gleichzeitig sicherten sie sich die Kontrolle über die Bürokratie, den Zugang zum großen Geld und die Fähigkeit zur Manipulation von Wahlen.

Vergessen?

Der andere Faktor, der es Dahal und seinen Gefolgsleuten ermöglichte, in der offenen Politik erfolgreich zu sein, während sie die Opfer des Konflikts und die Gesellschaft im Allgemeinen betrogen, war der Zeitfaktor. Die internationale Gemeinschaft in Gestalt der von Ian Martin geleiteten UN-Friedensmission in Nepal (UNMIN) sah sich mit politischen Vorwürfen von zu großer Sympathie mit der gesellschaftspolitischen Agenda der Maoisten und der daraus resultierenden Weigerung konfrontiert, UNMIN eine formale Rolle bei der Umsetzung des Umfassenden Friedensabkommens (CPA) zuzugestehen. Sie entschied sich, lieber weiterzuziehen, als einen Prozess langfristig zu begleiten, der an internationalem Glanz verloren hatte.

Diejenigen Bürger/-innen, die nach 2006 erwachsen wurden, haben nur noch schwache oder gar keine Erinnerungen an die Konfliktjahre. Die Schrecken der Dorfbewohner, ausgelöst durch Rohrbomben, Terror und das Dilemma, dem wechselnden Druck durch Armee und Maoisten ausgeliefert zu sein, oftmals zwischen den Fronten zu stehen, sind verblasst. Dass es die Maoisten waren, die den Prozess ausgelöst haben, der zu dem heutigen wirtschaftlichen Niedergang, dem gesellschaftlichen Chaos und der verpfuschten Politik geführt hat, gerät zunehmend in Vergessenheit.  

Armee und Maoisten

Im Laufe seiner Geschichte hat Nepal stark unter struktureller gesellschaftlicher Gewalt gelitten, doch physische Gewalt und Blutvergießen waren meist auf höfische Machtkämpfe in Kathmandu oder das Schlachtfeld beschränkt. Die Strategie und Taktik der Maoisten dagegen war geprägt von Gewaltanwendung gegen die Zivilbevölkerung. Als die Armee im November 2001 eingriff, forderte ihre höhere Feuerkraft exponentiell mehr Todesopfer. Die Maoisten töteten mit größerer Grausamkeit einzelne Menschen, während die Sicherheitskräfte mehr Menschen mit ihren Waffen töteten – die Öffentlichkeit geriet ins Kreuzfeuer, bildlich und auch ganz physisch und ungeschützt.

Der bewaffnete Konflikt wurde durch das in Neu-Delhi ausgehandelte 12-Punkte-Abkommen beendet, das zum Umfassenden Friedensabkommen vom November 2006 führte. Es kann jedoch keinen erfolgreichen Abschluss des Friedensprozesses geben, wenn der Prozess der Übergangsjustiz nicht angemessen und prinzipienfest durchgeführt wird, da sonst die Gefahr von Nachahmer-Aufständen und reaktionärem Staatsterror in Nepal fortbesteht.

Die Notwendigkeit, Täter zur Rechenschaft zu ziehen, gilt unabhängig davon, ob die Straftaten vom Staat oder von den Rebellen begangen wurden. Es gibt aber einen bedeutenden Unterschied, wenn es um politische Handlungsfähigkeit geht. Während die Täter auf staatlicher Seite – in der Armee, der nepalischen Polizei und der bewaffneten Polizeitruppe – im Ruhestand sind und das politische Geschehen nicht mehr lenken, nehmen die Maoisten heute eine entscheidende Position in der Mainstream-Politik ein. Sie wollen die lästige Angelegenheit Transitional Justice möglichst schnell und geräuschlos hinter sich bringen. Sie hoffen, sich in den Augen der internationalen Gemeinschaft vollständig zu legitimieren, indem sie einen Scheinprozess durchsetzen.

Umso dringlicher ist es, den Prozess der Übergangsjustiz in Friedenszeiten angemessen abzuschließen. Die Gesellschaft wird den Konflikt nicht hinter sich lassen und sich nicht auf den Aufbau ihrer Wirtschaft, Stabilisierung und den Schutz ihrer vielfältigen Kultur inmitten globaler Dissonanzen konzentrieren können, solange es keine stabile demokratische Politik gibt. Das Land wird keine demokratische Stabilität erreichen, wenn es keine gültige Übergangsjustiz gibt, um die zehn Jahre des Konflikts und die zehn Jahre des ruinösen Übergangs hinter sich zu lassen.

Es ist wichtig, zwischen der Führungsriege um Dahal, also denjenigen, die auf seinen Zug aufgesprungen sind und die Früchte ihrer Machtpositionen genießen, und der Masse der maoistischen Kader zu unterscheiden. Letztere hatten sich in gutem Glauben dem Kampf angeschlossen und können heute ebenfalls als Opfer des Konflikts bezeichnet werden. Zusammen mit den Familien der Toten, der Verschwundenen, der Verstümmelten, der Kindersoldaten und der seelisch Traumatisierten, derjenigen, die ihren Lebensunterhalt und ihr Eigentum verloren haben, bilden auch die maoistischen Kader eine Masse, die zunehmend in Not geraten ist, weil ihnen ihr Leben und ihre Zukunft gestohlen wurde.

Wozu die Eile?

Die Eile geht von der maoistischen Führungsclique um Dahal aus, von einigen in der Armee, die die Angelegenheit in der sich bringen oder auf Eis legen wollen, und von einigen internationalen Akteuren, die „TJ-Müdigkeit“ zeigen.

Zehntausende von Konfliktenopfern, die zwischen Staat und Maoisten gerieten, haben kein Interesse daran, eine fehlerhafte Gesetzesrevision zu verteidigen. Mit Sicherheit wollen die Opfer, dass die Regierung sich mit der Wiedergutmachung und Entschädigung beeilt und Unterstützung für ihren Lebensunterhalt, die Ausbildung der Kinder und die Rückgabe des enteigneten Eigentums anbietet. Aber sie wollen keine einzige Abkürzung bei der Verhängung von Strafen für abscheuliche Verbrechen, für die nach internationaler Praxis Rechenschaft verlangt wird, nämlich Vergewaltigung, Entführung, Verschwindenlassen, Folter und außergerichtliche Tötung.

Nachdem die Transitional Justice lange verzögert wurde, liegt nun ein Entwurf ganz nach dem Geschmack der Dahal-Führung vor:  Rechenschaftspflicht mit reduzierter Strafe für weniger als eine Handvoll Täter und Immunität für alle anderen. Seine Lesart ist auch, dass die internationale Gemeinschaft, insbesondere die Europäer, die den TJ-Prozess vorangetrieben haben, ihn jetzt zu Ende bringen wollen. Dahal braucht die internationale Unterstützung des TJ-Prozesses unter der Leitung von Minister Bandi, denn sein politisches Fortkommen setzt voraus, dass er in der Lage ist, ins Ausland zu reisen, und zwar über Indien und China hinaus, die ihn stets freundlich aufgenommen haben. Andere Staatsbesuche waren eingeschränkt, denn er hätte festgenommen werden können. So hatte Dahal 2016 einen Flug nach Australien im letzten Moment nicht angetreten, nachdem er vom australischen Außenministerium auf diplomatische Wege darüber informiert worden war, dass Opfer maoistischer Gewalt die Gerichte dazu veranlasst hatten, ihn bei der Ankunft festzunehmen.

Die Chinesen werden das Wort Übergangsjustiz nicht in den Mund nehmen. Den indischen Behörden hat es nie gefallen, dass in Nepal ein dynamischer Prozess der Übergangsjustiz im Gange war. Ein erfolgreiches Beispiel aus dem nahen Nepal hätte Druck aufbauen können, eine solche Praxis auch im Kontext der lang andauernden Konflikte im Nordosten des Landes, in Kaschmir und auf den Naxal-Aufstand anzuwenden. Die Europäer waren zusammen mit den Vereinten Nationen an vorderster Front dabei, als es 2006 darum ging, Nepal zu einer Übergangsjustiz zu verhelfen. Sie waren/sind aber mit Themen wie den syrischen Flüchtlingen, der Klimakrise, dem Scheitern der NATO-Intervention in Afghanistan und jetzt der Invasion in der Ukraine beschäftigt.

Das UN-Hochkommissariat für Menschenrechte (OHCHR) war während des Konflikts die federführende Stelle der internationalen Gemeinschaft, bevor es von UNMIN an den Rand gedrängt wurde. Das Kommissariat hatte ein detailliertes Dossier mit dem Titel Nepal Conflict Report zusammengestellt, in dem die wichtigsten Gräueltaten des jahrzehntelangen Konflikts aufgelistet und detailliert beschrieben wurden. Dennoch schweigt das OHCHR zum TJ-Gesetzentwurf, ebenso wie die verschiedenen Menschenrechtsberichterstatter. Human Rights Watch, Amnesty International und die International Commission of Jurists beobachten zwar weiterhin den TJ-Prozess in Nepal und geben Erklärungen dazu ab, aber der Eifer lässt nach.

Die Opfer sind allein

Letztendlich ist es die Aufgabe der nepalischen Bürgerrechtsorganisationen und der Konfliktopfer selbst, durch eine prinzipienfeste Praxis der Übergangsjustiz auf einen angemessenen Abschluss des Friedensprozesses zu achten. Die nepalische Menschenrechtsgemeinschaft ist in letzter Zeit aufgrund von persönlichem Ehrgeiz, Karrierismus, parteipolitischer Voreingenommenheit, Ideologie (oder deren Fehlen) und versiegenden finanziellen Mitteln gespalten.

Die Gemeinschaft der Konfliktopfer ist durch das Unvermögen, auf nationaler und internationaler Ebene Medieninteresse für Fragen der Übergangsjustiz und der Menschenrechte im Allgemeinen zu wecken, entmutigt.

Eine Besonderheit der nepalischen Erfahrung besteht darin, dass sich die Opfer der verschiedenen Konfliktparteien auf einer gemeinsamen Plattform, der Conflict Victims’ Common Platform zusammengeschlossen haben. Opfer, die in abgelegenen Winkeln des Landes leben, größtenteils in wirtschaftlicher Not sind und keine politischen Verbindungen haben, mussten entsetzt zusehen, wie der TJ-Prozess gekapert wurde. Die nepalischen Konfliktopfer stehen also allein vor der Welt und schützen dennoch weiterhin die flackernde Flamme der Übergangsjustiz. Die internationale Gemeinschaft muss verstehen, dass man, wenn man von Menschenrechten in Nepal spricht, ipso facto auch vom Prozess der Übergangsjustiz sprechen muss, dessen Gelingen von essentieller Bedeutung für die Zukunft des Landes ist.

Verlust von politischem Kapital

Was die maoistischen Führer jedoch besonders fürchten, ist das Risiko, dass der Prozess der Übergangsjustiz ihre erfolgreichen politischen Karrieren bremst – als Premierminister, Minister und Verantwortungsträger in allen möglichen staatlichen Positionen, die es ihnen erlauben, Macht auszuüben und Reichtum anzuhäufen. Es ist also nicht einmal die Angst, in Nepal ins Gefängnis zu kommen, die sie dazu veranlasst, den TJ-Prozess zu behindern, sondern vielmehr die Tatsache, dass selbst die Vorladung zu einer Anhörung durch die Wahrheits- und Versöhnungskommission und die Beantwortung von Fragen im Zusammenhang mit Klagen der Opfer ihr politisches Ansehen und ihre Karrieren beeinträchtigen würde. Der Mangel an Beweisen wird wahrscheinlich eh dazu führen, dass die Mehrheit der Angeklagten auf freiem Fuß bleibt. Doch die erste Sorge gilt nicht dem Gefängnis, sondern dem Verlust des politischen Kapitals. Daher sah sich Minister Bandi gezwungen, einen Änderungsentwurf vorzulegen, der darauf abzielt, die Rechenschaftspflicht für Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen in der Konfliktära sowie die Pflicht, vor einer Kommission zu erscheinen, abzuschaffen.

Bandis Gesetzentwurf

Der Änderungsentwurf ist täterfreundlich und enthält etwas weltweit Einzigartiges, indem er zwischen gewöhnlicher Tötung und abscheulicher Tötung bzw. Folter unterscheidet. Wie will man überhaupt zwischen einer normalen Tötung und einer extrem grausamen und unmenschlichen Tötung unterscheiden?

Der Gesetzentwurf zielt darauf ab, die Justiz unter die Kontrolle der Exekutive zu bringen und ihre Rolle zu schwächen. Der Generalstaatsanwaltschaft sollen nur sechs Monate zur Verfügung stehen, um in Fällen von Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit die Ermittlungs- und Gerichtsunterlagen vorzubereiten, wobei es sich um Fälle handelt, die zwei Jahrzehnte zurückliegen und Beweise sowie Zeugenaussagen erfordern. Der Gesetzentwurf bietet Tätern die Möglichkeit, von den Opfern für abscheuliche Verbrechen aus der Konfliktzeit exkulpiert zu werden. Solche extremen Menschenrechtsverletzungen gehen jedoch die gesamte Gesellschaft an und nicht nur die Opfer. Letztere haben ein Recht auf Wiedergutmachung, Gedenken sowie ein Recht auf ein ordentliches Verfahren und die Rechenschaftspflicht der Täter. Eine Generalamnestie zu erlassen ist zwar das Recht des Staates, doch dieses Recht muss mit äußerster Wachsamkeit ausgeübt werden.

Bandis Gesetzentwurf hat die Möglichkeiten der strafrechtlichen Verantwortlichkeit der Täter eingeschränkt. Es wird versucht, Exzesse wie die außergerichtlichen Tötungen außerhalb des Bereichs der Rechenschaftspflicht und der Gerichte zu halten, was nachhaltige Auswirkungen auf die Stabilität von Staat und Gesellschaft haben wird. Bei allem, was in der nepalischen Staatsführung schief läuft, wird diese Art der formalisierten Straffreiheit letztlich der Gesellschaft, der Kultur und der Wirtschaft schaden und sich auch auf den geopolitischen Status sowie Nepals internationales Ansehen Nepals auswirken.

Einige begrüßenswerte Bestimmungen wie die Fortführung der TJ-Kommissionen und das Recht der Opfer auf Wiedergutmachung verblassen im Kontext des Gesetzentwurfs zu einem Nichts, weil er den Tätern trotz schwerer Menschenrechtsverletzungen Straffreiheit gewährt.

Es ist daher wichtig, dass es eine Zusammenstellung aller Punkte gibt, die korrigiert werden müssen, und dass diese Korrekturen dann auch erfolgen. Eine solche Checkliste kann von der Nationalen Menschenrechtskommission in Absprache mit der Gemeinschaft der Konfliktopfer und den Menschenrechtsgruppen erstellt werden. Justizminister Bandi, die Regierung und die internationale Gemeinschaft sollten nicht vergessen, dass Nepal seit langem eine rechtsbasierte Gesellschaft ist, eine moderne Gesellschaft, die eine Verfassung durch eine gewählte verfassungsgebende Versammlung angenommen hat.

Aus dem Englischen übersetzt und bearbeitet von Karin Döhne und Thomas Döhne

Zum Autor
Kanak Mani Dixit ist Schriftsteller, Journalist und Herausgeber sowie Gründungsredakteur der Zeitschrift Himal Southasian. 

Texthinweis
Der Originaltext erschien am 07.08. in der Nepali Times unter dem Titel – Transitional injustice in Nepal – https://www.nepalitimes.com/opinion/transitional-injustice-in-nepal/.

Cookie Consent mit Real Cookie Banner