Am Donnerstag den 8. Februar waren 128 Millionen registrierte Wähler in Pakistan aufgerufen, ihr nationales Parlament neu zu wählen. Über 5000 Kandidaten stellten sich in den 272 Wahlkreisen auf bzw. waren von ihren Parteien aufgestellt, darunter allerdings nur – oder sollte man sagen: immerhin? – 313 Frauen. Zahlreiche Parteien standen zur Wahl, die große Mehrzahl davon mit einer regionalen Basis – und außerdem eine große Zahl unabhängiger Kandidaten. Die beiden großen Favoriten waren die alten und neuen wirklich nationalen Parteien, nämlich die Pakistan People’s Party (PPP) und die Pakistan Muslim League (PML-N), die die politische Geschichte des Landes lange geprägt haben – und einander spinnefeind sind.
Die dritte wirklich Nation-übergreifende Partei, Pakistan Tahreek-i Insaaf (PTI) fehlte offiziell. Ihre Teilnahme an der Wahl hatte das Verfassungsgericht verboten. Allerdings haben die Medien eine neue Kategorie in die Wahlberichterstattung eingeführt, die auch tatsächlich die Wahl faktisch gewonnen hat, nämlich – in englischer Sprache: „PTI backed candidates“ – offiziell unabhängige Kandidaten mit PTI-Unterstützung. Von denen sind 92 tatsächlich ins Parlament gewählt worden, die PML (N) hat es auf 71 gebracht, die PPP auf 54. Die restlichen 36 sind mehr oder weniger unbedeutend. So der derzeitige Stand der Auszählung am Freitag 10. Februar – offiziell bekanntgegeben werden soll das Wahlergebnis am morgigen Samstag.
Führer der PTI und von 2018-2022 22ster Premierminister Pakistans ist der ehemalige Kricket-Star Imran Khan. Er sitzt seit April 2022 im Gefängnis. Es ist ein offenes Geheimnis, dass ihn das allmächtige Militär kalt gestellt hat, nachdem er es gewagt hatte, sich gegen es aufzulehnen. Nun droht ihm allen Ernstes eine langjährige Haftstrafe. Kurz vor seiner Festnahme hatte er noch ein kämpferisches Video aufgenommen, in dem er sich einmal mehr als Märtyrer der Gerechtigkeit darstellte und seine Anhänger zu Massenprotesten und zum „Marsch auf Islamabad“ aufgerufen hatte. Die Sicherheitsdienste hatten daraufhin die Zugangswege zur Hauptstadt mit aufeinandergestapelten Containern großräumig abgeriegelt. Sie nahm den Videoclip als Aufruf zu gewaltsamem Widerstand wahr.
Die Aufwiegelung zu öffentlicher Gewalt wird ihm aber vor Gericht nicht zum Vorwurf gemacht. Das Oberste Gericht will das Verfahren nicht zu einem Ort werden lassen, in dem sich Imran Khan als Opfer des Militärs inszenieren kann. Vorgeworfen wird ihm widerrechtliche Annahme von Geschenken und ein Vergehen gegen islamische Heiratsgesetze bei seiner dritten Ehe.
Pakistan hat aus der Kolonialzeit das Mehrheitswahlrecht geerbt. Das stärkt die großen Parteien und schwächt die kleinen. Am Wahltag hatte die Regierung den Mobilfunk abschalten lassen – angeblich, um Terroranschläge zu verhindern, in Wirklichkeit aber wohl, um Wähler zu verwirren. Viele Wähler in Pakistan erkundigen sich erst am Wahltag, wo ihr Wahllokal liegt. Als Favorit der Militärführung gilt die PML (N) und ihr willfähriger Führer Nawaz Sharif, der erst kürzlich nach vier Jahren im Ausland wieder nach Pakistan zurückgekehrt ist. Unter der Regierung Imran Khan drohte ihm die Verhaftung wegen massiver Korruptionsvorwürfe.
Doch der Versuch, die PML (N) in einem abgekarteten Spiel mit manipulierten Wahlen an die Macht zu bringen, ist misslungen. Die inoffiziellen PTI-Kandidaten werden sich wahrscheinlich mit der PPP auf eine Regierung einigen. Da sie aber offiziell als Partei nicht auftreten können und ihr Führer im Gefängnis sitzt, werden sie wohl nicht den Kandidaten für das Premierministeramt stellen können. Eine Koalition der PPP mit der PML (N) gilt als unwahrscheinlich.
Führer der PPP ist der 1988 geborene und damit für die Verhältnisse in der pakistanischen Politik noch sehr junge Bilaval Bhutto Zardari, jüngster Sproß einer altgedienten Familie von Politikern mit feudalherrschaftlicher Basis in der Südprovinz Sindh. Er ist der Enkel des Parteigründers der PPP Zulfikar Ali Bhutto, den der islamistische Militärherrscher Zia ul-Haq 1979 wegen Landesverrat hinrichten ließ, und Sohn von Benazir Bhutto, die 2007 mitten im Wahlkampf einem Attentat zum Opfer fiel. Sein Vater, Asif Ali Zardari, war von 2008-2013 sogar Staatspräsident. Bilaval könnte der dritte Premierminister aus der Familie Bhutto werden, wenn es ihm gelingt, die Unterstützung der PTI-Kandidaten zu gewinnen.
Diese werden aber sicherlich die Forderung nach Freilassung von Imran Khan ganz oben auf der Liste ihrer Forderungen stehen haben. Das wiederum dürfte sowohl die Militärs als auch Bilaval Zardari und seine PPP in Unruhe versetzen. 2018 war die Begeisterung für Imran Khan als Premierminister groß – stand er doch für den Aufstand gegen die korrupte Politikerkaste. Seine Gefangennahme hat gewissermaßen seinen Ruf widerhergestellt, was er sicherlich ausspielen wird, sobald er dazu die Möglichkeit hat.
Hinzu kommt, dass Pakistan in einer tiefen ökonomischen Krise steckt, es sich mit der Ausweisung eines großen Teils der afghanischen Flüchtlinge endgültig mit den Taliban verdorben hat und mit dem Iran nach dem gegenseitigen Raketenbeschuss in einer ernsthaften diplomatischen Krise steckt. Mit dem dritten Nachbarland China steht Pakistan mehr und mehr in der Beziehung des Vasallen zu seinem Herrn. Wenn China den Hahn zudreht, ist Pakistan verloren. Kein Wunder, dass der Auswanderungsdruck bei den jüngeren Generationen größer ist denn je.
Heinz Werner Wessler