Dommaraju Gukesh heißt der neue Schachweltmeister. Das indische Schachwunderkind hat mit seinem Sieg in Singapur (Endstand 7,5 zu 6,5 Punkten) über den amtierenden Weltmeister Ding Liren nicht nur die Schachwelt, sondern zweifellos auch die Herzen seiner Landsleute erobert. Denn sein Gegner war ein chinesischer Großmeister. Gukeshs Spielstil lässt sich am besten als eine mutige Fusion von Angriffslust und positionsstrategischem Verständnis beschreiben. Im Match gegen Ding Liren zeigte Gukesh, dass er nicht nur brillante Ideen entwickeln kann, sondern auch in der Lage ist, Druck über lange Phasen aufrechtzuerhalten. Im 14. Spiel nutzte er einen Fehler Dings aus und schaffte den Sieg.
Besonders in den Mittelspielen gelang es ihm, den amtierenden Weltmeister mit unerwarteten Manövern aus der Balance zu bringen. Gukesh spielt gern unkonventionelle Eröffnungen, um Gegner in unbekanntes Terrain zu führen – eine Strategie, die sich gegen einen so gut vorbereiteten Spieler wie Ding auszahlte. Nach dem abschließenden Handschlag verbarg er sein Gesicht in den Händen, überwältigt von Emotionen. Der WM-Titel bringt ihm den Löwenanteil des Preisgeldes in Höhe von 2,5 Millionen Dollar (etwa 2,37 Millionen Euro).
Spieltechnik
In der vierten Partie des Matches bewies Gukesh seine taktische Schärfe. In einer „Italienischen Partie“ baute er langsam Druck auf den Damenflügel auf, während er gleichzeitig die Möglichkeit eines Königsangriffs offen hielt. Ding, bekannt für seine defensive Stärke, reagierte zunächst souverän, geriet jedoch in Zeitnot. Ein überraschender Qualitätsopferzug von Gukesh in Zug 29 brachte das Gleichgewicht zum Kippen und eröffnete ihm entscheidende Linien für seine Türme. Gukesh nutzte diesen Vorteil – und gewann die Partie.
Die siebte Partie, die als Wendepunkt des Matches gilt, zeigte Gukeshs Nervenstärke. In einer „Spanischen Partie“ entschied er sich für das riskante Offensivspiel mit einem frühen Bauernopfer im Zentrum. Ding versuchte, das Opfer zu neutralisieren, übersah jedoch eine taktische Finesse im 34. Zug, die Gukesh in eine Gewinnstellung brachte. Obwohl Ding sich bis ins Endspiel verteidigte, verwandelte Gukesh die Stellung mit einer beeindruckenden Demonstration von Technik und Geduld in einen Sieg.
Ding Liren ist bekannt für seine ruhige, fast unerschütterliche Spielweise, die auf tiefer strategischer Planung und unnachgiebiger Verteidigung basiert. Gukesh war sich bewusst, dass er nicht darauf hoffen konnte, Ding in positionellen Schlachten zu übertreffen. Stattdessen setzte er auf taktischen Druck und die Fähigkeit, Ding in dynamischen, asymmetrischen Stellungen herauszufordern. Ein bemerkenswerter Aspekt war Gukeshs Zeitmanagement. Während Ding gelegentlich in Zeitnot geriet, behielt der junge Inder stets einen klaren Kopf und nutzte die kritischen Momente, um präzise Züge zu finden.
Geopolitisches Duell
Geboren in Chennai, der inoffiziellen Schachhauptstadt Indiens, zeigte Gukesh schon früh außergewöhnliches Talent. Mit nur 12 Jahren wurde er Großmeister, einer der jüngsten in der Geschichte des Spiels. Gukeshs Aufstieg war kein Zufall: Seine Hingabe, kombiniert mit dem Einfluss von Schachikonen wie Viswanathan Anand (Weltmeister von 2007-2013), ebnete ihm den Weg in die Weltelite. Im Finale bewies er Nervenstärke, besonders in den entscheidenden Momenten. Während Ding Liren, der eine depressive Lebensphase hinter sich hat, konnte zwar Erfahrung und Ruhe ausspielen, währen Gukesh mit mutigen Zügen und raffinierten Vorbereitungen von schlagkräftigen Zügen faszinierte. Insbesondere im Endspiel der letzten Partie zeigte der junge Inder außergewöhnliche Präzision und sicherte sich damit den entscheidenden Sieg.
China hatte in den letzten Jahren durch Spieler wie Ding Liren und Hou Yifan in der Schachwelt eine dominierende Position eingenommen. Doch Gukeshs Sieg zeigt, dass Indien nicht nur aufgeholt hat, sondern bereit ist, die Führung zu übernehmen. Während Ding Liren die ruhige Eleganz eines Meisters verkörpert, steht Gukesh für eine neue, mutige Generation von Spielern, die keine Angst haben, gegen etablierte Größen anzutreten. Der Titelgewinn ist für Indien mehr als ein sportlicher Erfolg: Er ist ein Symbol für die wachsende Bedeutung des Landes in der Welt des Schachsports.
Der Sieg über Ding Liren markiert nicht nur das Ende von Chinas Schachdominanz, sondern auch den Beginn einer neuen Ära für Indien. Gukesh hat bewiesen, dass er in der Lage ist, unter immensem Druck zu bestehen und auf höchstem Niveau zu performen. Seine Fähigkeit, sich an verschiedene Spielstile anzupassen und in entscheidenden Momenten das richtige Maß an Aggression und Kontrolle zu finden, macht ihn zu einem der vielseitigsten Spieler der Schachwelt. Nun ist ganz Indien stolz auf Gukeshs Erfolg sein, mit 18 Jahren der jüngste Schach-Weltmeister überhaupt. Sein Sieg spiegelt nicht nur sein eigenes Talent, sondern auch die Stärke des indischen Schachsystems. Mit weiteren aufstrebenden Talenten wie Praggnanandhaa und Nihal Sarin ist es nur eine Frage der Zeit, bis Indien auch in der Breite die Schachwelt beherrscht.
Heinz Werner Wessler