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Smarte Ergänzung zum Wetterbericht: Der AQI –„Air Quality Index“ – ist Teil des Alltagslebens in den indischen Großstädten

 

Seit Jahrzehnten weiß man es, theoretisch und praktisch: Die Luft wird immer schlechter in den indischen Metropolen. Und es wird immer schlimmer und schlimmer. Man stöhnt und keucht in der schlechten Luft und schüttelt den Kopf über den Niedergang der Lebensqualität und die Unfähigkeit der Politik. Und so ändert sich nichts. Stattdessen ist der AQI – Inder lieben Akronyme – zum ständigen Begleiter der Menschen geworden. Mehr noch als dem Wetterbericht gilt die ständige Aufmerksamkeit des Großstadtinders und der Großstadtinderin dem Air Quality Index, wie es so geschliffen anglophon heißt.

 

Insbesondere im Winter blickt sie sorgenvoll in den kleinen Bildschirm des Smartphones und postet den aktuellen Stand der Schadstofflage über die sozialen Medien. Und die Aufmerksamkeit gilt nicht nur der Gegenwart, sondern auch der Voraussage für die nächsten Tage. Im laufenden Winter sind die Meldungen etwa in Delhi schlimmer denn je. Eine Chronik der fortgeschrittenen Selbstvergiftung der indischen Großstädte.

Ein Wert über 200 AQI gilt als „poor“, über 300 „very poor“ – über 400 als „hazardous“ oder auch „severe“… dabei hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) noch andere und rigidare Maßstäbe. Am heutigen Freitag den 12. Januar ist der AQI-Wert wieder einmal an einer der vielen Meßstellen ganz besonders hoch: 519. Eigentlich eine Katastrophe, doch die Handlungsempfehlungen sind immer noch harmlos: Den Einwohnern wird empfohlen, zuhause zu bleiben, insbesondere Alten und Kranken, die bei solchen Werten akut gefährdet sind. Man soll die Fenster geschlossen halten, möglichst einen Luftreiniger zuhause einsetzen. Schulen schließen ihre Tore und unterrichten die Schüler stattdessen online – aus der Zeit der Corona-Pandemie hat man da wichtige Erfahrungen gemacht. Es wird sogar freundlich gebeten, den eigenen PKW stehen zu lassen, sogar Baustellen und Fabriken müssen die Arbeit niederlegen – es sei denn, sie haben sich eine Sondergenehmigung ergattert, was nicht unmöglich zu sein scheint.

Die Bürger machen gerne die Bauern aus dem städtischen Umland für die Dunstglocke über Delhi verantwortlich, die unverantwortlicherweise im Winter ihre Stoppelfelder abbrennen – wie sie das immer getan haben. Oder die Nachtwächter, die sich in den kalten Monaten nachts gerne an einem Feuerchen wärmen. Mit anderen Worten: Die Verantwortung tragen die Anderen. Doch warum ist selbst eine Hafenstadt wie Mumbai vom lebensgefährlichen Smog betroffen, deren Innenstadt von drei Seiten vom Meer umgeben ist? Sind also doch die Abermillionen von Fahrzeugen mit Verbrennungsmotoren schuld? Ein großer Teil von denen hat doch Gasantrieb und ist damit irrelevant für Smog, habe ich immer wieder gehört. Außerdem wächst die Zahl der elektrisch betriebenen Fahrzeuge rasant, heißt es. Nur leider sind sie noch teuer in der Anschaffung.

Das Fahren von Privatfahrzeugen mit Verbrennungsmotor verbieten also? Gott bewahre, solche Verbote kann sich nur die chinesische Führung in ihrem Land erlauben, dessen “Disziplin” in Indien mit einem gewissen Neid betrachtet wird. In Indien ist ein solcher Eingriff in die persönliche Freiheit eine hochpolitische Angelegenheit. Also lieber nicht zu drastisch, denken die Führer des Volkes und solche, die es werden wollen.

Doch das scheint nicht auszureichen. Dabei sind die Menschen gut informiert. Die Medien berichten laufend, längst ist die lebensgefährlich gewordene Umweltverschmutzung zum öffentlichen Thema geworden. Die Ausgabe von India Today vom 11. Dezember widmet der schlechten Luftqualität und deren Folgen ein Schwerpunktheft. Zum wiederholten Male: Schon die Ausgabe vom 15. Dezember 1996 stand unter dem Titel „Choking to Death“. Damals noch ein ungewohntes Thema. Die Schlagzeile auf der Titelseite vom 16. März 2015 lautete ähnlich drastisch: “Death in the Air”. Heute kann keiner kann sagen, er oder sie habe es nicht gewusst, dass der Smog krank macht – und sogar umbringt.

Gar nicht zu sprechen von der Vergiftung der Gewässer, der Böden, der Lebensmittel. Gewiss, Indien investiert kräftig in erneuerbare Energien, das derzeit größte Sonnenkraftwerk der Welt, der Bhadla Solar Park, steht in der Wüste Thar in Rajasthan. Städte werden begrünt, die Einführung von elektrisch betriebenen Fahrzeugen staatlich gefördert, Industrieanlagen werden in Randbereiche der Städte verlagert. Es entstehen Indien-weit leistungsfähige Schnellbahn- und U-Bahnnetze, die Menschen vom Auto und vom Motorrad wegbringen.

Doch das alles scheint nicht viel zu helfen: Immer mehr Landschaft wird zubetoniert, mit jeder neu asphaltierten Straße wächst das Verkehrsaufkommen exponentiell, die industrielle Produktion boomt, die Fabrikschlote rauchen, die Städte wachsen ohne Ende, das Wohstandsniveau steigt sichtlich – und die Menschen nehmen dafür mit erstaunlichem Gleichmut hin, dass sich die durchschnittliche Lebenserwartung wegen den saisonal nahezu konstant miserablen Werten im AQI um Jahre senkt.

Heinz Werner Wessler

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