Seit dem 19. Jahrhundert ringen Großmächte um Einfluss in Afghanistan, während sich das Land in seinen unterschiedlichen Herrschaftsformen – vom Königtum bis zur Herrschaft des selbst unter den Taliban besonders radikalen Emirs von Kandahar – diesem Einfluss zu entziehen sucht. „The Great Game“ nannte man Afghanistan im 19. Jahrhundert, „die große Jagdbeute“. Und sie wurde nie wirklich erlegt.
Nach dem chaotischen Zusammenbruch des afghanischen Staatswesens und dem Abzug der internationalen Militärmission 2021 entstand das System Taliban 2.0. Wie man inzwischen weiß mit nicht weniger Härte für Frauen und für Abweichler aller Art als das 2001 nicht weniger rasch gestürzte Vorgängerregime Taliban 1.0. Wie in Asad-Syrien in den letzten Jahren mehren sich inzwischen die Stimmen der Internationalen verschiedener Couleur, die eine Art von Ausgleich mit dem islamistischen Regime suchen. Immerhin gehen die Taliban rigoros gegen den Opium-Anbau vor und hüten sich, noch einmal zum Zufluchtsort für international agierende Islamisten zu werden. Und das Volk selbst? Das scheint froh zu sein, dass wenigstens kein Krieg ist.
Nun geht ausgerechnet Indien auf die Taliban zu: Keineswegs überraschend, denn ein gutes Verhältnis mit Afghanistan war schon immer eine Wunschformation indischer Außenpolitik und der Horror in Pakistan, das in den 1980er Jahren zusammen mit den Amerikanern die sogenannten Mujahiddin geschaffen hatte – und in den 1990er Jahren die Taliban. Pakistan ging es dabei hauptsächlich darum, sich ein sicheres Hinterland zu schaffen. I
In dieser Woche traf der indische Topdiplomat Vikram Misri den afghanischen Aussenminister Amir Khan Muttaqi zu Gesprächen in Dubai. Laut Medienberichten ging es ganz harmlos um Indiens humanitäre Hilfe für Afghanistan sowie um den iranischen Hafen Chabahar, dessen Ausbau Indien seit Jahren vorantreibt, um den Handel mit Afghanistan zu stärken.
Doch es geht um mehr. Indien sieht die Chance, sich Afghanistan wieder anzunähern, während das Verhältnis zwischen Kabul und Islamabad sich dem Nullpunkt annähert. Bis 2021 hatte das noch ganz anders ausgesehen. Indien hatte Afghanistan-Resolutionen der Vereinten Nationen mitgetragen und den internationalen Einsatz indirekt unter anderem mit zahlreichen Entwicklungsprojekten unterstützt. Beim überstürzten Abzug der internationalen Militärmissionen 2021 evakuierte Indien den Großteil der bis dahin noch verbliebenen Sikhs mit einer rasch eingerichteten Luftbrücke nach Indien.
Der damalige inzwischen verhaftete Premierminister Imran Khan hatte dagegen den Taliban gratuliert und davon gesprochen, Afghanistan hätte endlich seine Ketten abgeschüttelt. Inzwischen hat sich Islamabads Verhältnis zu seinen früheren Protégés in Afghanistan stark abgekühlt. Der wichtigste Grund dafür ist, dass sich die afghanischen Taliban weigern, ihre Unterstützung für die islamistische Rebellengruppe Tehreek-e-Taliban Pakistan (TTP) einzustellen und deren Rückzugslager in Afghanistan zu schließen. Die TTP will aus Pakistan ähnlich wie in Afghanistan ein Emirat machen und ist mit ihrem Terror der Kopfschmerz der pakistanischen Sicherheitsdienste.
Erst am 21. Dezember wurden bei einem TTP-Angriff in der Region Süd-Waziristan 16 Soldaten getötet. Die Armee flog daraufhin Luftangriffe auf angebliche TTP-Lager jenseits der Grenze in Afghanistan. Zur Vergeltung traktierten die Taliban ihrerseits am 28. Dezember mehrere Orte auf der pakistanischen Seite der Grenze mit weitreichender Artillerie. Die Angriffe hätten Lagern des Islamischen Staats Khorasan (IS-K) gegolten, erklärten die Taliban. Beim IS-K handelt es sich um den afghanischen Ableger des globalen Terrornetzwerks. Zwar gibt es ideologische Überschneidungen mit den Taliban, doch sind die beiden sunnitischen Islamistengruppen verfeindet und bekämpfen sich seit Jahren erbittert.
Das Spiel um den Einfluss in Afghanistan ist eine Konstante der südasiatischen Realpolitik: Afghanistan hat nie die Durrand-Linie anerkannt, die Pakistan von Afghanistan trennt und erhebt Anspruch auf das ganze pashtunische Stammesgebiet, was den sogenannten Pashtunkhva in Pakistan einschließt. Pakistan dagegen sieht Afghanistan als sein Hinterland und versuchte stets mit seinen Sicherheitsdiensten, die afghanische Politik zu seinen Gunsten zu manipulieren. Russland, China und Indien dagegen haben ein strategisches Interesse an Afghanistan, vor allem seit klar ist, dass das Land anders als gedacht einiges an Rohstoffen anzubieten hat, unter anderem gewaltige noch weitgehend unerschlossene Vorräte an strategisch wichtigem Lithium.
Dass die Rechte von Frauen und Mädchen mit Füßen getreten werden und wegen der schweren Wirtschaftskrise viele Menschen hungern müssen, spielt keine Rolle. Ein Systemzusammenbruch wie in Syrien ist im Land am Hindukusch kaum zu erwarten. Im Land herrscht mehr Frieden denn je in den vergangenen Jahrzehnten – und das ist es, was das Volk am dringlichsten wünscht. Die Taliban, so scheint es, sitzen fest im Sattel.
China hatte schon vor 2021 führende Taliban nach Peking eingeladen und ist eines der wenigen Länder, die nach dem Einmarsch der Taliban den Botschaftsbetrieb in Kabul aufrechterhielten, seit einigen Monaten haben auch die Taliban einen akkreditierten Botschaft in Peking. China hat grosses Interesse an den reichen Vorkommen von Lithium, Kupfer, Gold und Eisenerz am Hindukusch und hat umfangreiche Investitionen in Aussicht gestellt. Zudem baut die Volksrepublik im Zuge ihrer Belt-and-Road-Initiative den pakistanischen Hafen weiter Gwadar aus, um den Zugang nach Afghanistan zu erleichtern. Dieser Ausbau ist wiederum einer der Punkte, die die Opposition in der Pakistanischen Provinz Baluchistan seit Jahren gegen die Regierung in Islamabad aufbringt, denn die Hafenregion ist praktisch zu einer Art exterritorialem Gebiet für China geworden, das pakistanische Staatsbürger gar nicht mehr betreten dürfen. Hinzu kommt, dass Gwadar ein wichtiges Glied in der Kette von Häfen im indischen Ozean ist, wo chinesische Kriegsschiffe anlanden dürfen.
Auch Moskau ist an einem besseren Verhältnis zu den Taliban interessiert. Russland hat besonders an einer Kooperation gegen den IS-Khorasan Interesse. Khorasan ist die historische Bezeichnung einer staatenübergreifenden Region in Zentralasien, die sich je nach Definition bis auf russisches Territorium erstreckt. Im März hatte der IS-K einen Anschlag auf eine Moskauer Konzerthalle mit über 140 Toten verübt. Im Dezember hat das russische Parlament ein Gesetz verabschiedet, das es erlaubt, die Taliban von der Terrorliste zu streichen. Russland ist wie auch den anderen Staaten der Region klar, dass die Taliban auf absehbare Zeit die Regierung in Kabul stellen werden.
Es ist kaum damit zu rechnen, dass das Regime in Kabul ähnlich wie das Assad-Regime in Syrien plötzlich vertrieben wird, auch wenn selbst die Golfstaaten ihre Schwierigkeiten mit der pashtunischen Lesart des Islamismus haben. Iran hält sich höflich zurück – doch Indien, Iran und Afghanistan eint die Skepsis gegenüber Pakistan. Es sieht ganz danach aus, dass sich die Regierung in Kabul seine Verbündeten unter China, Russland, Iran und Indien aussuchen kann. Pakistan jedenfalls ist vermutlich dauerhaft außen vor. Taliban hin oder her: Es ist eine Konstante afghanischer Politik, dass es sich nicht zur Jagdbeute machen lässt. Es sieht nur manchmal so aus.
Heinz Werner Wessler