Am 7.-8. August 2025 fand an der Jawaharlal Nehru University (JNU) in Neu-Delhi eine internationale Konferenz unter dem Titel „Birsa Munda and the Decolonization of Janjatiya Studies“ statt (Janjatiya: ‘Scheduled Tribe’, i.e. Adivasi). Organisiert wurde sie vom Centre for Indian Language (CIL) der School of Language, Literature and Culture Studies in Zusammenarbeit mit dem Indian Council of Social Science Research (ICSSR). Anlass war der 150. Geburtstag des Freiheitshelden und Adivasi-Führers Birsa Munda und zugleich das 50-jährige Bestehen des CIL – ein Jubiläum, das der Einrichtung die Möglichkeit bot, ein zentrales Thema gegenwärtiger kultur- und sozialwissenschaftlicher Debatten in den Vordergrund zu rücken: die Dekolonisierung der Stammes- bzw. Adivasi-Studien.
Birsa Munda (1875–1900) ist in Indien nicht nur als Freiheitskämpfer und charismatischer Anführer der Munda-Gemeinschaft in Jharkhand bekannt, sondern mehr und mehr auch als Symbolfigur für den Widerstand indigener Gruppen gegen koloniale Ausbeutung, Landenteignung und kulturelle Unterdrückung. Der von ihm angeführte Ulgulan-Aufstand (1899–1900) gilt als Wendepunkt im Kampf der Adivasi-Bevölkerung gegen britische Herrschaft. Heute geht es um die berühmten drei Dinge: Jal, Jangal, Jamin („Wasser, Wald und Erde“) – längst nicht mehr nur eine Angelegenheit der Adivasi, sondern angesichts des ökologischen Wandels mehr und mehr eine Angelegenheit für alle Erdbewohner. Denn die menschliche Zivilisation steht vor der elementaren Herausforderung, Quellen für alternative Lebensformen zu identifizieren und weiter zu entwickeln, um den Klimawandel, die Verknappung des Trinkwassers und die Vergiftung von Wasser, Luft und Boden zu bekämpfen.
Die Veranstaltung zielte darauf ab, koloniale und postkoloniale Wissensordnungen kritisch zu hinterfragen, die die Erfahrungen indigener Gemeinschaften marginalisieren. Es ging auch darum, akademische Narrative zu dekolonisieren und indigene Stimmen nicht nur als Forschungsobjekt, sondern als gleichwertige Wissensproduzenten anzuerkennen. Nicht zuletzt ging es um Adivasi-Literatur in Hindi – in den letzten Jahren sind die Stimmen der Adivasis zu einem wichtigen Genre der Gegenwartsliteratur geworden und mehr und mehr Autoren schreiben direkt in Hindi.
Der thematische Rahmen war breit gesteckt: Historische Analysen von Mundas Leben und Wirken standen neben Diskussionen über kulturelle Autonomie, ökologische Werte und die Bewahrung und Dokumentation mündlicher Traditionen in einer Zeit des raschen sozialen und kulturellen Wandels. Besondere Aufmerksamkeit galt auch der Rolle von Übersetzung – sowohl als Brücke zwischen indigenen und nationalen Diskursen als auch als potenzieller Ort von Bedeutungsverlusten. In den Worten der Organisatoren: „Translation is not an innocent act; it can be a space of epistemic violence when dominant languages fail to carry the depth of indigenous concepts.“
Das Seminar war interdisziplinär angelegt und richtete sich an Historiker, Soziologen, Anthropologen, Literaturwissenschaftler und Übersetzungsforscher. Die Themen reichten von Landrechten und Umweltgerechtigkeit über religiös-millenaristische Bewegungen bis hin zu linguistischen Fragen im Umgang mit Adivasi-Sprachen. Damit wurde nicht nur die historische Figur Birsa Munda gewürdigt, sondern auch ein Forum für die Weiterentwicklung der Janjatiya Studies im Lichte aktueller theoretischer und methodischer Ansätze geschaffen. Wichtig ist, dass gegenwärtige Adivasi-Kulturen in der Forschung aus dem kolonialistischen Blickwinkel der Musealisierung herauskommen und als Teil der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung in Indien und in der Welt begriffen werden.
Die JNU-Tagung reiht sich ein in eine Reihe von Veranstaltungen, die in jüngster Zeit in verschiedenen Teilen Indiens zu Birsa Munda stattgefunden haben. So wurde etwa in Patna ein nationales Seminar mit dem Titel „Decolonising the Janjatiyas (Tribes): Birsa Munda in the Ulgulan“ abgehalten, bei dem der Gouverneur von Bihar, Arif Mohammad Khan, Jugendliche dazu aufrief, im Geiste Mundas gegen soziale Missstände zu kämpfen. Auch in Ranchi, Jharkhand, fanden am Internationalen Tag der indigenen Völker am 9. August Gedenkveranstaltungen statt, die jedoch in diesem Jahr in einem eher kleinen Rahmen blieben. In der JNU wurden am Tag nach der Tagung, also am 9. August, hinter dem Convention Center mehrere Bäume zum Gedenken an die Tagung gepflanzt. Ein Referat bei der Tagung hatte auf die Tatsache aufmerksam gemacht, dass es etwa im Lebensraum der Bhils heutzutage praktisch keinen Wald mehr gibt, womit der Slogan Jal, Jangal, Jamin einen ganz anderen, und nostalgischen Klang bekommt. Doch warum nicht neu Wald anlegen? Wenn der Wille da ist, findet sich auch ein Weg.
Die Konferenz „Birsa Munda and the Decolonization of Janjatiya Studies“ ein deutliches Signal dafür, dass sich die indischen Geistes- und Sozialwissenschaften verstärkt mit Fragen der epistemischen Gerechtigkeit auseinandersetzen. Sie griff die Symbolfigur Birsa Munda nicht nur zur historischen Würdigung auf, sondern als Ausgangspunkt für die Diskussion über Machtverhältnisse im Wissensbereich, den Erhalt kultureller Eigenständigkeit und den Kampf gegen kolonial geprägte Narrative.
In diesem Sinn ist die Tagung nicht nur als akademisches Ereignis, sondern auch als Beitrag zu einer gesellschaftlich relevanten Bewegung zu sehen: der Anerkennung indigener Perspektiven als integraler Bestandteil der nationalen Geschichtsschreibung und wissenschaftlichen Praxis. Und: Eine Konferenz, die das Hindi als Sprache internationaler Konferenzen befestigt. Die meisten Vorträge und Panel-Beiträge waren auf Hindi – darunter einige, die sich sichtlich Mühe gaben, das Englische hinter sich zu lassen.
Heinz Werner Wessler





