Bei der Eröffnung des BRICS-Gipfeltreffens in Rio de Janeiro am vergangenen Sonntag hielt sich Brasiliens Präsident und Gastgeber Lula da Silva zurück. Seine Rede zum Auftakt war mit elf Minuten rekordverdächtig kurz. Doch er sprach klar aus, was viele denken, auch unter den anwesenden Staatsführern – bei denen zum ersten Mal der chinesische Staats- und Parteichef Xi Jinping fehlte. Und der russische Präsident Putin fehlte obendrein, da Brasilien nicht eindeutig signalisierte, dass es dem Fahndungsaufruf des Internationalen Strafgerichtshofs nicht nachkommen werde, der Brasilien zu einer Festnahme Putins verpflichtet. Stattdessen wurde der indische Premier Narendra Modi mit allen Ehren empfangen, die der brasilianische Staat zu bieten hat. Die chinesische Dominanz des Staatenbundes scheint angeknackst, seitdem es China nicht gelingt, die BRICS-Staaten zu einer klaren Verurteilung der US-Handelspolitik zu bewegen.
Stattdessen kritisierte Lula den jüngsten NATO-Beschluss zur massiven Aufrüstung aus einer Perspektive des Globalen Südens, für den die BRICS-Staaten sprechen wollen. „Es ist einfacher, fünf Prozent des Bruttoinlandsproduktes für Militärausgaben bereitzustellen als die versprochenen 0,7 Prozent für die öffentliche Entwicklungshilfe.“ Zweifellos eine korrekte Beschreibung der Tatsachen. Wir leben in einer Zeit der Aufrüstung bei gleichzeitiger Reduzierung der globalen Solidarität. „Die industrialisierten Staaten investieren mit Leichtigkeit in Aufrüstung, aber kürzen gleichzeitig ihre Verpflichtungen in der Entwicklungszusammenarbeit,“ so Lula weiter.
Vergangene Woche versammelten sich über 15.000 Teilnehmende und mehr als 60 Staats- und Regierungschefs in der brütenden Hitze von Sevilla zur UN-Konferenz über die Finanzierung der globalen Entwicklungszusammenarbeit bis 2030. Der Anlass war ernst: Laut UN fehlen jährlich rund 4 Billionen US-Dollar, um die im Jahr 2015 beschlossenen nachhaltigen Entwicklungsziele (SDGs) zu erreichen – darunter die Beseitigung extremer Armut, Zugang zu sauberem Wasser und Ernährungssicherheit für alle. Schon zum Zeitpunkt der Formulierung galten diese Ziele als ambitioniert – heute wirken sie angesichts globaler Spannungen, zunehmender Klimakatastrophen und geopolitischer Krisen beinahe utopisch.
Seit der zweiten Amtszeit Donald Trumps haben sich die Vereinigten Staaten als jahrzehntelanger Hauptakteur der Entwicklungshilfe weitgehend zurückgezogen. Die staatliche Entwicklungsagentur USAID wurde nahezu abgewickelt, rund 80 % der Projekte sollen gestrichen werden – darunter Impfprogramme gegen Polio und Malaria, der Aufbau lokaler Verwaltungen und humanitäre Hilfe in Krisenregionen. Doch auch andere Länder – darunter die Bundesrepublik – fahren ihre Haushaltsposten in Sachen Entwicklungshilfe drastisch herunter.
Laut OECD könnten die weltweiten Entwicklungsausgaben bis 2027 um 25 Prozent sinken – das wären über 60 Milliarden US-Dollar weniger pro Jahr. Die Folge: Programme werden eingestellt, ganze Regionen verlieren wichtige Unterstützung. Am stärksten betroffen sind Länder in Afrika, Asien und Lateinamerika. Auch in Südasien – etwa in Bangladesch, Nepal und Pakistan – drohen empfindliche Einschnitte bei Gesundheitsversorgung, Bildung und Armutsbekämpfung.
In Südasien, wo über eine Milliarde Menschen unterhalb oder knapp über der Armutsgrenze leben, wird die Unsicherheit der internationalen Hilfe mit Sorge betrachtet. Indien ist zwar nicht mehr nur Empfängerland für Entwicklungshilfe, sondern hat sich in den letzten Jahren ihre Rolle als Geberland ausgebaut – etwa durch Süd-Süd-Kooperation und gezielte Infrastrukturprojekte in Afrika und Asien – doch die Eigenmittel vieler Staaten reichen nicht aus, um Entwicklungsziele aus eigener Kraft zu verwirklichen. In Afghanistan hatte sich Indien vor der Machtübernahme der Taliban zu einem der wichtigsten Geberländer entwickelt – und ist nun seit einiger Zeit wieder dabei, seine Verbindungen mit den Taliban zu verbessern und sich wieder als wichtiger Partner aufzustellen.
Regierungen in der Region fordern eine verbindlichere Verantwortung der Industrieländer für die nachhaltige Entwicklung in ihren Ländern. In Bangladesch etwa warnen Entwicklungsorganisationen davor, dass der Rückgang internationaler Hilfe besonders Frauen und Kinder trifft – etwa in Programmen für Müttergesundheit oder Schulmahlzeiten. Indische Think Tanks wie das Observer Research Foundation oder das Centre for Policy Research analysieren bereits, wie multilaterale Entwicklungsbanken und private Kapitalquellen künftig stärker eingebunden werden könnten, um die Lücke zu schließen.
Nach Angaben des Center for Global Development sind besonders Länder in Zentral- und Ostasien, Westafrika und Lateinamerika von US-Kürzungen betroffen. Auch humanitäre Hilfe für die Ukraine, Äthiopien und Kongo wurde bereits reduziert. In Ländern wie Sri Lanka, Kolumbien oder Gaza liegen die Einschnitte teils bei mehreren Hundert Millionen Dollar.
Während Großprojekte wie HIV-Programme oder Wirtschaftsinvestitionen noch vergleichsweise stabil bleiben, sind es besonders landwirtschaftliche Entwicklungsprogramme, Infrastruktur und Bildungsinitiativen, die deutlich zurückgefahren werden. Dies gefährdet langfristig die Selbstständigkeit ganzer Regionen.
Auch Indiens Premierminister Narendra Modi bekräftigte in Rio, dass globale Verantwortung nicht selektiv ausgeübt werden darf, und forderte mehr Mitsprache und Mitgestaltungsmöglichkeiten für Schwellenländer in internationalen Finanzinstitutionen wie der Weltbank oder dem IWF.
Ohne substanzielle neue Geldquellen – darunter stärkerer Einbezug privater Investitionen, klimagerechter Finanzierung und gerechterer globaler Steuerregelungen – drohen die Ziele der Agenda 2030 zu scheitern. Besonders Programme in den Bereichen Gesundheit, Bildung, Ernährungssicherheit und Klimaanpassung sind auf kontinuierliche Unterstützung angewiesen.
Die Konferenz in Sevilla hat noch einmal deutlich gemacht: Die ärmsten Regionen, insbesondere in Afrika südlich der Sahara und in Teilen Südasiens, sind auf internationale Solidarität angewiesen. Doch während sich die klassischen Geberländer zurückziehen, ruht die Hoffnung auf neuen Formen globaler Zusammenarbeit, vor allem der Süd-Süd-Kooperation. Und natürlich auf privaten Gebern, die die Lücken füllen sollen. Doch das solidarische Engagement der industrialisierten Staaten werden sie nicht ersetzen können. Wir brauchen wieder eine neue internationale Politik, die die Entwicklungszusammenarbeit nicht als freiwillige milde Gabe im Ablasshandel der reichen Staaten dieser Welt sieht, sondern als Investition in eine globale Zukunft.
Heinz Werner Wessler